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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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Werkstätten und Spinnereien gearbeitet. Sie waren wortkarge, höfliche Leute gewesen, verschreckt und entwurzelt. Ihre eigene Zukunft bedeutete ihnen wenig, sie dachten an die ihrer Kinder. Sie hatten ihre Heimat im Herzen bewahrt, erstarrt in der Erinnerung und immer in der Angst, die Bilder könnten zerfallen oder hinfällig werden vor allzu offenkundiger Sinnlosigkeit.
    Über Rikon war der Himmel pastellfarben, die Häuser mit ihren Vorgärten still. Eine provinzielle Melancholie prägte die Ortschaft. Dann wurde die Straße steil und kurvig. Laubwälder. Herbststimmung. Nässe. Nach einer Weile erschien auf der rechten Straßenseite das Klostergebäude. Es war, wie alle tibetischen Hauser, nach Süden ausgerichtet und in den Hang gebaut. Um diese Zeit standen vor dem Kloster nur wenige Autos. Ich fand schnell einen Parkplatz, stieg aus und ging eine kurze Wegstrecke zurück. Das Gebäude am grasbewachsenen Steilhang war von einem Schweizer, Heinrich Kuhn-Ziegler, gestiftet worden. Kuhn-Ziegler, der 1969 starb, hatte zuerst nur ein Haus für die Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Er sah die Geduld, die offenbare Sanftmut, mit der jene, die vor Chinas Invasion geflohen waren, ihr Los trugen, das derart ungerecht war. Man konnte diesen Zustand weder verstehen noch sich erklären, wenn man nicht mit der buddhistischen Glaubenswelt vertraut war. Kuhn-Ziegler beschloss, für die Tibeter im Exil und auch für die Menschen im Westen einen Ort zu schaffen,
wo sich beide Kulturen begegnen konnten. Menschen wie er waren es, die durch ihre Handlungen Licht in diese Zeiten der Verzweiflung brachten. Das Kloster war das erste Institut dieser Art, das in Europa errichtet wurde. An seiner Planung waren tibetische Äbte beteiligt gewesen, sodass alles nach angestammten Grundregeln gebaut wurde. Modern und gleichsam zeitlos passte sich das Gebäude in die Landschaft ein. Die frühere Generation der Tibeter kannte noch die Kunst der Geomantik. Die Gebäude wurden aufgrund der Beobachtung von Wind, Wasser und Erdkraft errichtet. Man glaubte, die Beachtung aller natürlichen Gleichgewichte könne kosmische Energien binden, die Gesundheit, Wohlstand und ein langes Leben sicherten. Ich war erfüllt von Begeisterung, wie jedes Mal, wenn ich diese Harmonie spürte. Meine geschulten Augen folgten den unsichtbaren geometrischen Linien bis zu dem »Tschörten«, ein goldenes Türmchen, aus zwei glockenförmigen Kuppeln gebildet. Der Reliquienschrein war Sinnbild der fünf Elemente und enthielt alte heilige Schriften, die dem Kloster Frieden und Segen bescherten. Über dem Eingang zeigte eine etwas kitschige Skulptur ein zweites goldenes Symbol: ein Rad mit acht Speichen, die dem achtfachen Weg der Erleuchtung entsprachen. Und weil Buddha seine erste Lehre im Gazellenhain vermittelt hatte, wurde das Rad von zwei kauernden Gazellen flankiert. In dem Dachfirst war, in tibetischer Schrift, der Name des Gebäudes, »Tscho Khor gön« - »Kloster zum Rad der Lehre« -, eingraviert.
    Ich betrat das Institut durch die Halle, die auch als Unterrichtsraum diente. Die Decke war aus Beton, die Wände aus unverputzten Ziegelsteinen. Ein großer hölzerner Tisch und viele Stühle standen in der Mitte. Rundherum befanden sich die Zellen des Abtes und die der Mönche, etwas weiter der Speiseraum und dahinter die Küche. Die Bibliothek war unter dem Dach, der große Kultraum im Untergeschoss. Ein paar Mönche in ihren braunroten Roben kamen die Stufen empor.
Ich grüßte höflich, wie es sich gehörte, und sie grüßten mit freundlichem Lächeln zurück. Wie jedes Mal, wenn ich das Kloster aufsuchte, wurde ich von zwiespältigen Gefühlen heimgesucht. Der Ort war mir zu funktionell, zu gepflegt. Und gleichzeitig war hier ein Hauch tibetischer Seele spürbar, eine diskrete Behauptung, ein Festhalten an etwas Bildhaftem, das vielen so wertvoll wie das Wirkliche war. Es mochte nahezu unmöglich sein, eine verlorene Welt ohne Risse wiederaufzubauen. Man hatte den Eindruck, hier war zu viel Fantasie am Werk. Als Architektin fiel mir das auf. Man hatte eine Kartothek des Verlorenen zusammengestellt, ein Umfeld geschaffen, das anders und schwach war, aber trotzdem Trost bot. So unendliche Weiten vom wirklichen Tibet entfernt, mochte es nicht sinnlos erscheinen, ein Stück Erinnerung sichtbar zu machen.
    Ich hatte mich mit Kelsang im Besuchszimmer verabredet. Der Raum empfing das Licht aus einem großen Fenster, von dem man auf den Waldrand sah. An zwei Bäumen
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