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Tod eines Holländers

Tod eines Holländers

Titel: Tod eines Holländers
Autoren: Magdalen Nabb
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    » S ignora Giusti ! « protestierte Lorenzini, während er den Hörer vom Ohr hielt und die a n dere Hand verzweifelt gestikulierend in die Luft warf. Der rundliche Carabiniere m i t dem r osigen Gesicht , der in der anderen Ecke des Zimmers saß und gerade ein Blatt Papier in die Schreib m aschine spannen wollte, hielt grinsend inne. Er bekam alles m it, was die erregte Stimme am a n deren Ende der Leitung heraussprudelte, und als es wieder still geworden war, grinste er noch im m er.
    » Gestern dreim a l und heute schon das zweite Mal « , sagte er.
    » O Man n « , brum m te L o renzini und legte den Hörer m it einer Gri m asse auf, fügte aber noch hinzu: »Ar m e Klatschtante, alte ! «
    Als sie ihn das letzte M al so weit g ekriegt hatte, daß er zu i hr gekom m en war, hatte sie ihn fast den ganzen Vor m itt a g festgehalten und ihm ihre Lebensgeschichte erzählt und jedesmal, wenn er gehen wollte, sich unterbrochen und eine neue Beschwerde gegen den e i nen oder anderen Nachbarn vorgebracht. Die Florentiner haßten sie angeblich, weil sie aus Mailand war. Während s i e von den Schikanen berichtete, die sie erdulden m ußte, rollten ihr dicke Tränen die Wangen herunter und fielen auf ihre kleinen Hände, die so dünn und bleich wie Spatzenbeine waren.
    » Und ich bin einundneunzig Jahre alt ! « jammerte sie dann.
    »Einundneunzig Jahre… i ch wollte, ich wär längst tot … «
    » Ach was, Signora, ich bitte Sie, ich bitte Sie ! «
    Und jedesmal, wenn sich der bedauernswerte junge Mann wieder auf den Rand seines harten Stuhls setzte und beruhigend auf sie einzureden versuchte, hob sie wieder an und sprach von dem Streit, den ihre Verlobung ausgelöst hatte – vor dreiundsiebzig Jahren, aber es schien erst gestern gewesen zu sein –, während sie befriedigt m i t den sch m alen Händen gestikulierte und ihre Augen, aus Freude darüber, daß sie ihr Opfer wieder eingefangen hatte, teuflisch funkelten.
    » Soll ich hingehen ? « fragte der Carabiniere m it dem rosigen Gesicht und stand auf.
    » Nein, lieber nicht, du würdest m it der Situation nicht fertig werden. Ich sage dem Wachtm e ister Bescheid – ist er noch unten ? «
    » Ja…, a ls i c h hochkam, stritt er sich jedenfalls noch mit dies e m a m erikanisc h en Paar heru m . «
    Lorenzini rollte die Hemdsär m el he r unter und schnappte sich seine Uniform m ütze.
    »Ich werde wohl selbst vorbeischauen m üssen…«
    Er sah auf seine Uhr. » E s ist sowieso gleich zwö l f. Ich neh m e den Wagen und bring unser Mittagessen m it. Ciao, Ciccio ! «
    Ciccio hieß eigentlich C l aut, Gino Claut, aber in Florenz nannte ihn nie m and bei seinem richtigen Na m en, vie l leicht weil er deutsch klang. Er hatte eine ganze Reihe von Sp i tzna m en. Gigi, Ciccio, weil er so dick war, Polenta (weil er aus dem Norden kam oder weil sein kurzes, flachsblondes Haar die Farbe von Polenta hatte, dem b eliebten Nahrungs m ittel dort oben) und Pinocchio, ohne besonderen Grund, obgleich sein strahlendes Gesicht und seine langsa m en Bewegungen immer etwas Puppenhaftes hatten.
    Seine Uniform schien nie zu sitzen, so sehr er sich auch be m ühte, u n d eine Kragenecke war m eistens h o chgeklappt. Er hatte sich zusam m en mit seinem Bruder, der ein Jahr älter war und etwas größer und sch m aler, ans o nsten aber genauso aussah wie er, zu den Carabinieri ge m eldet; beide hießen dort nur ›die Jungs aus Pordenone‹, ein Ausdruck, der s t ets von einem Sch m unzeln begleitet wurde. In Wahrheit ka m en sie gar nicht aus Pordenone, sondern aus einem kleinen Dorf zwanzig Kilo m e ter weiter nördlich am Fuß der Dolo m iten. Gino m ochte alle seine Spitznamen. Sein Lächeln wurde immer breiter und sein Gesicht immer röter, je m ehr die anderen ihn neckten. Auch jetzt läche l te er, als Lorenzini die Treppe hinunterpolterte. Lorenzini war immer laut, immer in Eile. Dann legte sich ein A usdruck großer Konzentration auf sein Gesicht, er steckte die Zungenspitze heraus und begann, m it zwei Stu m melfingern bedächtig zu tippen.
    Unten in dem kleinen, zur Straße h i n gelegenen Dienstzimmer stand Wachtmeister Guarnaccia m it seiner ganzen Breite vor d e m vergitterten Schalter, durch den die A m erikaner i h re Beschwerde vorbrachten. Auf seinem Khakihe m d zeich n ete sich ein Schweißfleck zwischen den Schulterblättern ab, und immer wieder fuhr er sich m i t einem Taschentuch über den Nacken. Erst hatte er d en beiden in Zeichensprache und italieni s chen
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