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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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    Jonathan sah mich über die weinende November hinweg an. »Ihre Großmutter ist gestorben«, murmelte er.
    Mein Herz stolperte. »Sam«, sagte ich unwillkürlich.
    November schniefte und setzte sich wieder auf. Sie wühlte in ihrer Jackentasche herum. Jonty schob ihr wortlos die Küchenrolle hin, von der sie sich mit dankbarem Nicken ein paar Blätter abriss. Sie putzte laut ihre Nase, zerknüllte die Tücher und warf sie mit Schwung in den Abfalleimer unter der Spüle. »Danke. Ihr seid so lieb. Es tut mir leid, dass ich Sie aus dem Bett geholt habe, Mr Magnusson.«
    »Jonathan«, sagte Jonty. »Das ist in Ordnung, November. Ich h ätte sonst nicht mitbekommen, dass Ary nächtliche Spaziergänge unternimmt.« Ein strenger Blick traf mich. »Du weißt, dass du dich schonen musst. Deine Ärztin reißt mir den Kopf ab, wenn ich nicht auf dich aufpasse. Eine gerade überstandene Lungenentzündung ist kein Schnupfen!«
    Ich öffnete den Mund, fasste unwillkürlich an meine Schläfe, wollte protestieren, wusste aber nicht, wogegen. Ich schüttelte den Kopf. »Es geht mir prima. Ich wollte nur den Sonnenaufgang über dem Meer fotografieren.« Mein Blick fiel wieder auf November, die still und in sich gekehrt ihren Tee trank. »Das tut mir leid mit deiner Großmutter.«
    November atmete tief. »Ich habe sie ja kaum gekannt«, gab sie zurück. »Aber es ist ein komisches Gefühl. Jetzt habe ich niemanden mehr, zu dem ich gehöre.« Ihr Gesicht verzerrte sich, aber ihre Augen blieben trocken. »Nächsten Monat soll ich zurück aufs Internat. Ich will da nicht mehr hin. Die wissen alle, dass ich in der Klapsmühle gewesen bin und dass meine Eltern und meine Geschwister verunglückt sind. Ich kann nicht zurück in meine alte Klasse, sondern muss zu den Jüngeren. Ich ertrage das nicht, dass sie Mitleid haben werden und mich anglotzen wie einen Freak und flüstern und ... und ...« Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
    Jonathan beugte sich vor und legte beruhigend seine große Hand auf ihre Schulter. »Wer ist dein Vormund? War es deine Großmutter?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Tante Eliette«, sagte sie erstickt. »Die beste Freundin meiner Mutter. Sie will unbedingt, dass ich aufs Internat zurückgehe. Und sie hat ja recht, ich kann doch nicht hierbleiben. Ich will es auch nicht.«
    J onty warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich rede mit ihr«, sagte er. »Wir finden eine Lösung.«
    November hob den Kopf und sah ihn so dankbar und voller Zuneigung an, dass ich mir wünschte, ich wäre an seiner Stelle. Ich machte eine unwillkürliche Bewegung, die meinen Löffel vom Tisch beförderte. »November kann bei uns wohnen«, platzte ich heraus. »Wir haben doch Platz für vier in der Londoner Wohnung!«
    Jonathan brummte nachdenklich. »Langsam, junger Fant«, sagte er. »Dein Vater ist auch noch da und hat ein Wort mitzureden. Ms Burges als Novembers Vormund auch. Und ob es November gefallen würde, in unserer Männerwirtschaft zu leben ...«
    Sie hatte den Kopf gesenkt und starrte auf ihre Hände, die auf der Tischplatte ruhten. Es war mir peinlich, über ihren Kopf hinweg einen Vorschlag gemacht zu haben, der sie so sehr betraf. Wir kannten uns doch kaum!
    Wir lieben uns seit Jahrhunderten, flüsterte ein Stimmchen in meinem Kopf. Wir sind unzählige Male gemeinsam gestorben. Dies wäre unsere erste Gelegenheit, gemeinsam zu leben ...
    Ich betrachtete den Gedanken eine Weile, befand ihn für vollkommen abwegig, schüttelte den Kopf und konzentrierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. »Sorry«, sagte ich zu November. »Das ist mir so rausgerutscht. Ich wollte dich nicht bedrängen oder so.«
    Sie sah mich endlich an und lächelte. »Nein, das war sehr, sehr lieb von dir, Adrian. Danke.«
    Einige Atemzüge lang sahen wir uns in die Augen. Erkannten uns. November. Adrian. Jahrhundert um Jahrhundert, Tod um Tod ...
    D ann verstrich der Augenblick und die Verbindung riss. November trank mit einer entschiedenen Bewegung ihren Tee aus und stand auf. »Danke für alles«, sagte sie zu Jonathan. »Und noch mal Entschuldigung. Ich bin sonst nicht so aufdringlich.«
    Jonathan war auch aufgestanden. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie kurz und herzlich an sich. »Wenn wir etwas für dich tun können, dann sag es uns. Und komm jederzeit her, du bist uns herzlich willkommen.«
    Sie drehte sich zur Tür, ihre Augen schimmerten schon wieder feucht. Jonathan gab mir einen kleinen Wink, aber das hätte er
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