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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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Was würde ich dort vorfinden?
    Zu meiner Überraschung standen der Roshi und der Joker immer noch da und beobachteten mich. Ich hatte gedacht, dass die beiden verschwunden sein würden.
    Ich ging zwischen ihnen durch das Trümmerfeld, das einmal Heathcote Manor gewesen war. Die Ruine war vollkommen überwuchert. Zwischen den Trümmerhaufen wuchsen kleine Bäume. Es sah nicht so aus, als wäre das Haus in dieser Nacht erst zusammengekracht.
    »Und jetzt?«, fragte ich.
    Der Roshi hob die Brauen, der Joker tänzelte ein paar Schritte voraus.
    » Ich meine – bin ich jetzt gesund? Oder bin ich immer noch tot und spuke herum?«
    Der Roshi zuckte die Achseln. »Du hast gewählt«, sagte er. »Was du gewählt hast, weißt nur du.«
    Ich blieb stehen. »Moment mal«, sagte ich ein bisschen ärgerlich. »Du hast mir die Sache doch erklärt. In dieser Realität lebe ich, in einer möglichen anderen Realität bin ich tot.«
    »Ja«, sagte der Roshi. »In sehr vielen möglichen Realitäten bist du tot. In den meisten bist du nie geboren worden. In manchen bist du als kleines Kind gestorben. In vielen Realitäten sind deine Eltern niemals erwachsen geworden, deine Großeltern im Krieg gestorben. In der einen oder anderen Realität ist der Mensch nie zu einem Modell geworden, das sich durchsetzt, und hier leben immer noch Dinosaurier als die beherrschende Spezies. In vielen Realitäten existiert diese Welt nicht. In der einen oder anderen Realität ist das Universum kurz nach dem Urknall wieder in sich zusammengekracht.« Er lächelte mich an. »Du hast gewählt«, wiederholte er.
    »In meiner Realität werde ich mich mit November anfreunden«, sagte ich entschlossen. »Ich werde sie endlich ordentlich kennenlernen, so wie sie heute ist. Vielleicht verlieben wir uns ja doch noch richtig ineinander. Und ich werde Jamie Hewett mit einem Fußtritt nach Neuseeland kicken, wenn er das nächste Mal meinen Weg kreuzt.«
    »Das ist die richtige Einstellung«, grinste der Joker und schlug mir auf die Schulter.
    Wir näherten uns der Mauer zum Nachbargrundstück. Ich konnte das beleuchtete Küchenfenster sehen. Jemand war in der K üche und hantierte am Herd. Jonathan. Ich schluckte und rieb mir über die Augen.
    »Warum seid ihr beide noch hier?«, fragte ich den Roshi. »Ihr seid doch bloß Halluzinationen. Wenn ich jetzt wirklich gesund bin, müsstet ihr doch verschwunden sein.«
    Der Joker und der Roshi sahen sich fragend an. Dann zuckte der Roshi wieder fatalistisch mit den Schultern und sagte mit der Stimme des Bestattungsunternehmers: »Wenn Sie es sagen, Master Adrian.«
    Sie waren fort.
    Ich kletterte über die Mauer und lief auf die Gartentür zu. Es roch nach Kaffee.
    Hinter mir verblasste die Erinnerung an alles, was geschehen war. Über der Ruine ging die Sonne auf.
    *
    Jonathan hatte eine Schürze umgebunden und pfiff im Duett mit dem Wasserkocher leise vor sich hin. Er stellte Geschirr auf ein Tablett und sah vollkommen unausgeschlafen, aber gleichzeitig hellwach aus. Er stand doch nie vor Sonnenaufgang auf, was war los?
    Ich fragte gerade: »Was hat dich denn so früh aus dem Bett geworfen?«, als ich bemerkte, dass jemand an unserem Küchentisch saß. November. Ich starrte sie an wie einen Geist. Sie kämpfte mit den Tränen und wischte sich jetzt mit einer ungeduldigen Geste über die Augen. »Hallo Adrian.« Sie lächelte ein bisschen gezwungen. »Ich musste mit jemandem reden.«
    J onathan hörte auf zu pfeifen, brummte beruhigend und stellte eine Tasse vor sie hin. Ich konnte sehen, dass er es sich gerade so eben noch verkniff, November über den Kopf zu streichen. »Trinken Sie einen Schluck, Ms Vandenbourgh«, sagte er. »Möchten Sie ein Brot? Oder ein Spiegelei?«
    Sie nahm die Tasse zwischen beide Hände und lächelte zu ihm auf. Es sah sehr viel weniger gezwungen aus als das Lächeln, das sie mir geschenkt hatte. »Danke, ich habe keinen Hunger, Mr Magnusson. Und könnten Sie mich bitte duzen? Ich fühle mich sonst so ...« Sie verschluckte das letzte Wort, aber es hatte so ähnlich wie »allein« geklungen.
    Jonathan tat es jetzt doch. Er strich ihr über den Kopf und November brach in Tränen aus. Ich sah zu, wie Jonty das tat, was ich gerne getan hätte: Er nahm sie in die Arme, wiegte sie und brummte beruhigend. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie gut es tat, wenn Jonathan das machte, und setzte mich still an den Tisch. Mein Tee war süß und heiß, ich trank und versuchte, meine wirren Gedanken zu
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