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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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federleichte Berührung ließ mich aufschrecken. Ich erwartete, Samhain zu sehen, aber es war der Roshi, der neben mir stand – und an seiner Seite grinste der Joker mich an.
    » Êdorian, sei nicht bockig«, sagte der Roshi. »Geh mit ihm. Deine Uhr ist abgelaufen. Du hast gewusst, dass das jeden Augenblick geschehen kann. Deine Aufgabe ist gelöst, dich bindet hier nichts mehr.« Er sah mich so sanft und mitfühlend an, dass mir ein Kloß in den Hals stieg.
    »Altes Sabbelmaul«, sagte der Joker. Er zischte und stieß mich mit seinem spitzen Zeigefinger an. »Lass ihn reden, Kumpel. Gib dem Sargträger einen Tritt in den Arsch und schick ihn damit über die Klippe. Er hat dir nichts zu befehlen.« Er grinste und zeigte Moriarty den Mittelfinger.
    Der Bestattungsunternehmer wuchs in die Höhe. Seine Gestalt veränderte sich, er breitete schwarze Schwingen aus, die den Himmel bedeckten, sein nachtdunkles Haar flatterte in einem unsichtbaren Wind und sein strenges, blasses Antlitz verdeckte die Sterne. Ich sah das Schwert in seiner Hand und biss mir auf die Lippe. Niemand streitet mit dem Todesengel.
    »Folge mir, Adrian Smollett«, dröhnte seine Stimme wie ein Tempelgong, wie ein Chor aus tausend Stimmen.
    »Fick dich«, sagte der Joker. Er nahm meinen Arm und krallte seine Finger hinein. »Kumpel, sie haben dir deine Rechte nicht vorgelesen. Solange sie das nicht getan haben, musst du gar nichts.«
    Ich schnappte nach Luft. »Rechte?«
    Der Engel holte tief Luft. Ich erwartete einen donnernden Befehl, dem ich Folge leisten würde, weil ich meine Widerstandskraft dahinschwinden fühlte wie eine Eisscholle in der Karibik. Ich blinzelte.
    »Also gut«, sagte Moriarty. Seine Schwingen schrumpften hinter seinen Rücken zurück, seine Erscheinung wirkte plötzlich w ieder blass und unauffällig. Er setzte seinen Zylinder auf und zog ein abgegriffenes Notizbüchlein aus der Tasche seines Gehrocks. Dann setzte er einen Kneifer auf, blätterte in dem Büchlein herum und sah mich streng über seine Augengläser hinweg an. »Adrian Smollett«, sagte er. »Hiermit verlese ich Ihre Rechte. Hören Sie bitte gut zu, ich lese Sie Ihnen nur einmal vor.«
    Ich stehe vor dem Kutscherhaus. Ein dickes Auto mit Londoner Kennzeichen hält an, der Schlag springt auf. Ein Mädchen von vielleicht fünf Jahren springt heraus und rennt zur Haustür. »Opa«, ruft sie. »Opa-Opa, wir sind da!«
    Die Haustür öffnet sich und ich sehe Jonathan. Sein Bart ist grau, er ist vollkommen kahl und er hat ganz schön zugenommen. Er beugt sich vor, strahlt über das ganze Gesicht, breitet die Arme aus. Das Mädchen springt auf ihn zu und in seine Umarmung.
    Hinter Jonathan tritt mein Vater aus der Tür. Auch er ist älter, grauer, faltiger – und er lächelt mich an.
    Nein, nicht mich. Hinter mir steht jemand, geht durch mich hindurch. Ich sehe seinen Rücken. Er hat dunkle Haare, einen kurzen Bart, trägt schicke Klamotten. Er umarmt Toby, dann Jonathan.
    »Gratuliere zur erfolgreichen Ausstellung«, sagt Toby. »Ich habe den Bericht in der Times gelesen. Du bist ein Star.« Er klingt so stolz, als wäre er der Vater des Unbekannten. Ich fühle einen spitzen Stich von Neid.
    Der jüngere Mann lacht. »Es war wirklich ganz nett«, sagt er. »Die Leute stehen anscheinend nach wie vor auf Augenbilder.«
    »Wo ist deine allerliebste Frau?«, höre ich Jonathan fragen.
    D er Mann deutet zum Auto. »Sie sucht Sams Knuddelhasen, er ist unter den Sitz gerutscht.« Er wuschelt dem Mädchen durch die Haare, sie strahlt zu ihm hoch und lehnt sich an seine Knie.
    Sein Blick streift mich. Einen Augenblick lang sehen wir uns an. Sehen uns. Erkennen uns. Er senkt kurz die Lider, bestätigend. Sich erinnernd. Lächelt.
    Ich schnappe nach Luft, aber ehe ich etwas tun oder sagen kann, krabbelt eine dunkelhaarige Frau rückwärts aus dem Auto und richtet sich auf. Sie schwenkt einen hellblauen Stoffhasen und ruft: »Toby, Jonty! Hallo, ihr beiden!«
    Ich vergesse alles um mich herum. Das ist die Frau, die ich ... die dieser Mann geheiratet hat? Aber ...
    Ich schüttelte mich und protestierte: »Aber wo war November?«
    Mr Moriarty räusperte sich ärgerlich. »Unterbrechen Sie mich nicht, Master Adrian. Bitte!« Er murmelte und blätterte. »November Vandenbourgh«, sagte er. »Hier. Sie wird mit einem gewissen James Hewett nach Neuseeland ziehen, um dort Schafe zu züchten.« Wieder ein Blick über seinen Kneifer hinweg. »Dürfte ich dann fortfahren?«
    Ich nickte,
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