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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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in die Augen.
    November stand schon am Felsabbruch und sah hinunter. Es war nicht mehr winterkalt, die Luft duftete nach Frühling und dem Meer, aber das Mondlicht zog immer noch seine eisige, silberne Bahn über die Wellen. November seufzte und nahm meine Hand.
    »Gehen wir, Master Adrian?«
    Ich fuhr heftig zusammen. Aus dem Schatten trat der Bestattungsunternehmer, den Zylinder akkurat und gerade auf seinem Kopf. Sein bleiches Gesicht schimmerte wie ein Fischbauch.
    November regte sich nicht. Ihr Blick blieb auf die Bahn aus weißem Mondlicht gerichtet.
    »Ich denke, ich möchte jetzt nach Hause gehen, Mr Moriarty«, erwiderte ich geduldig. »Ich bin müde und November sicher auch.«
    Er nahm seinen Zylinder ab und drehte ihn unschlüssig in den Händen. »Master Adrian«, sagte er und stockte. »Ah, ich fürchte ... da ist eine winzig kleine Unstimmigkeit ... etwas, das Sie wissen sollten ...« Er schnappte nach Luft und blickte Hilfe suchend um sich.
    »Sprechen Sie, Mr Moriarty«, forderte ich ihn auf, nun etwas weniger geduldig. Ich wollte nach Hause. Ich wollte Jontys leises Schnarchen hören und das Klappern von Tobys Tastatur. Ich wollte noch einen Abstecher in die Küche machen, eine Flasche eiskaltes Wasser in mich hineinschütten, dann eine heiße Dusche nehmen und endlich schlafen. So zerschlagen, wie ich mich fühlte, würde ich wahrscheinlich erst rund um Mittsommer wieder aufwachen.
    N ovember rührte sich. »Adrian ...«, sagte sie, seufzte und verstummte. »Mr Moriarty, Sie müssen es ihm sagen.«
    »Du kannst ihn sehen?« Mir wurde kalt. »Was muss er mir sagen?«
    Er räusperte sich rau. »Ich habe die unbedingte Anweisung, Sie mit mir zu nehmen.« Seine Stimme klang entschuldigend. »Mein Handlungsspielraum ist begrenzt, Master Adrian. Ich darf Sie nicht länger hier herumlaufen lassen.« Er deutete auf den Horizont, wo der Mond langsam in die Wellen tauchte. Die Straße aus Licht lief wie mit dem Lineal gezogen auf uns zu. »Dort entlang, wenn ich bitten darf.«
    Ich lachte und sah November beschwörend an. »Ich träume das doch, oder?«
    Sie erwiderte meinen Blick. Schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir müssen jetzt gehen«, sagte sie. »Es tut mir leid, Adrian.«
    Ich verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Wo ... wo ist die andere?«, fragte ich. »Du weißt schon, deine Doppelgängerin. Also, eigentlich ist sie ja deine ...«
    »November ist zu Hause in ihrem Bett«, erwiderte sie. »Morgen wird sie sich an einen wirren Traum erinnern und nach und nach vergessen, was geschehen ist. Es ist gut so.«
    Meine Gedanken rasten und kamen dann plötzlich vollkommen zum Stillstand. In meinem Kopf herrschte völlige Leere. Dann, langsam, schmerzhaft, kam die Erkenntnis.
    »Samhain. Novembers Großmutter. Ms Vandenbourgh?«
    Sie lächelte schwach. »Ich bin Sam. Die Großmutter kommt erst später.« Sie zuckte die Achseln. »Oder ist längst vergessen. Der Ablauf der Zeit ist kein Konzept, das Geister wie dich und mich wirklich betrifft.«
    I ch schluckte. Meine Kehle war so rau und trocken, dass es sich anfühlte, als steckte ein dicker Backstein in meiner Kehle. »Geister.« Geister. Wie dich und mich ?
    Sie nickte mitfühlend.
    »Darf ich stören?«, mischte Azrael Moriarty sich ein. »Bitte, der Mond geht gleich unter. Wir sollten uns beeilen.«
    Ich trat hastig vom Rand der Klippe zurück. »Ich gehe nicht mit Ihnen«, rief ich. »Ich bin hier noch nicht fertig!«
    »Du bist tot, Adrian«, sagte Sam. »Deine Familie beweint dich. Wohin willst du zurückkehren? In einen bereits zerfallenden Körper? Und selbst wenn du es schaffen würdest, dein Herz wieder zum Schlagen zu bringen ... du bist so krank, dass es doch nur eine Rückkehr auf Zeit wäre. Sei lieb, mein Junge. Komm mit.« Sie hob die Hand, reichte sie mir.
    Ich wich noch weiter zurück. »Ich denke nicht daran.«
    Moriarty mischte sich ein. »Seien Sie doch vernünftig, Master Adrian. Wenn Sie jetzt nicht mitkommen, müssen Sie hierbleiben, so wie Sie sind. Entkörperlicht. Sie wären verdammt, hier zu spuken, bis die Direktion entschieden hat, was mit Ihnen geschehen soll. Das ist ein sehr unangenehmer Zustand, wie ich mir habe sagen lassen.«
    Ich wandte mich ab und kämpfte mit dem Orkan an Gefühlen, der mich nun schüttelte. Ich konnte nicht tot sein! Ich hätte es doch gemerkt – und selbst wenn, es war nicht fair. Ich hatte mich nicht einmal verabschiedet, nicht von November, nicht von meiner Familie ...
    Eine
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