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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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griff in die Kiste.
    »Was immer das hier ist, es ist gut verpackt.«
    Agnete war durch einen Adressaufkleber an der unteren Ecke abgelenkt. »Es ist an Alice adressiert«, sagte sie. »Schau mal, Stephen. Erkennst du die Handschrift?«
    Er ließ die Verpackung los und rutschte zu ihr herüber.
    »Ja. Das ist Baybers Handschrift.«
    »Mein Vater.«
    Ihr Vater. Er hatte keinen Augenblick daran gedacht, in welcher Beziehung sie und Bayber standen und was die beiden Bilder für sie bedeuten mussten. Er hatte nur an ihren Wert in einem umfassenderen Sinn gedacht – die Sensation, die die Entdeckung auslösen würde, die kostbare Ergänzung zu einem bekannten und scheinbar abgeschlossenen Gesamtwerk. Jetzt hielt er inne, und ihm fielen die Manschettenknöpfe ein, die er immer mit sich herumtrug. Wie würde er sich fühlen, wenn er unvermutet etwas von Dylan fände? Agnete hatte recht. Es würde ihm mehr bedeuten als alle Pollocks und Mangolds, Klees und Gormleys zusammen.
    Agnete war die Anspannung im Gesicht abzulesen; über ihren Hals zog sich ein bläulicher Streifen, der an der Schläfe wieder auftauchte. Sie biss sich auf die Unterlippe.
    »Am besten machst du sie auf.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir beide zusammen. Du hast uns alle zusammengebracht, Stephen. Du und Professor Finch.«
    Stephen zögerte, nickte und drehte dann die Kiste um, sodass sie offen vor ihnen lag. Sie griffen zusammen hinein und zogen an etwas Weichem, was sich wie eine Decke anfühlte. Stephen schlug die Umhüllung zur Seite, und Agnete schnappte nach Luft.
    »Das ist meine Mutter. Das ist Alice. Sie ist wunderschön.«
    Stephen lehnte die dritte Tafel des Triptychons gegen die Wand. Das Ölgemälde steckte in einem großen, aber schlich ten Goldrahmen. Im Geist stellte Stephen die beiden anderen Teile in ihrer richtigen Reihenfolge dazu; die Hintergrundfarben gingen übergangslos ineinander über. Die Mädchen auf den äußeren Tafeln zogen ihr jüngeres Ich von Bayber fort in die Zukunft; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren vereint. Doch während Natalie das Baby Agnete an sich drückte und den Blick ernst auf den Betrachter richtete, hatte sich Alice auf ihrer Tafel seitlich abgewandt und blickte mit freudestrahlendem Gesicht, von ihren fließenden Haaren wie von einer hellgoldenen Aura umrahmt, zum Himmel. Mit einem Arm hielt sie ihren gewölbten Bauch, der andere war nach hinten gestreckt und fasste die Hand einer jüngeren Alice. Der blaue Azurbischof, der in dem Käfig im Mittelteil fehlte, saß auf Alices Schulter und sah aus, als flüsterte er ihr etwas ins Ohr.
    Agnete weinte. Stephen legte ihr ungeschickt den Arm um die Schultern, und sie drehte sich zu ihm und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Er fühlte, wie sein Hemd nass wurde. Vorsichtig versuchte er, die Kiste mit dem Fuß wegzuschieben, aber sie war zu schwer.
    »Agnete, hier ist noch etwas.«
    Sie wischte sich das Gesicht mit den Händen ab und sah zu, wie Stephen ein kleineres Gemälde, das in ein Stück Flanellstoff eingeschlagen war, aus der Kiste nahm und auswickelte. Es war eine mittelgroße, ungerahmte Leinwand.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Ich war mal dort«, erwiderte Stephen und strich versonnen über das Bild. »Ich kenne den Ort. Das ist das Sommerhaus deines Vaters. Wo er und Alice sich kennengelernt haben.« Man sah das Haus vom See aus, inmitten eines tobenden Sturms. Stephen hatte eine ungefähre Vorstellung vom Standpunkt des Malers; er konnte fast den unruhigen Wellengang unter sich spüren, während er in einem kleinen Boot stand und Richtung Land schaute. Im Vordergrund sah man einen wilden Strudel aus Gischt und Schaumfetzen, große Wellen jagten über das Wasser, die nassen Felsen am Strand und das glänzende Dach der Hütte reflektierten das Licht. Die Fenster waren von einem matten Glühen erleuchtet, und der Rauch, der aus einem der Schornsteine stieg, wies auf ein Kaminfeuer hin. Stephen trat näher heran. Die wässrigen Schlieren am oberen Bildrand waren in Wirklichkeit flache, V-förmige Vögel, die in dichten Schwär men alle in dieselbe Richtung flogen, aber die Pinselstriche waren untypisch für Bayber. Stephen drehte das Bild um und gab es Agnete, die laut vorlas, was in kräftigen Buchstaben auf der Rückseite stand:
    Alice,
    Lass nicht den Kummer deine einzige Landkarte sein,
    damit du den Rückweg ins Glück nicht verfehlst.
    T.

Epilog
    F inch fuhr gleich am Morgen nach der Rückkehr zu Thomas’ Wohnung, die jetzt
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