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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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zwischen die Laken. Es war nicht mehr lange bis Tagesanbruch, bald hätte er eine weitere Chance, Agnetes Gedächtnis ein flüch tiges, aber wesentliches Detail zu entlocken, das ihm die Antwort geben würde.
    Der Eidotter rann wie ein gelber Fluss über seinen Teller in das Bohnenmus, das er zur Seite geschoben hatte. Nach halb zwölf Eier zu essen war ein Fehler, beschloss Stephen. Sie waren zu dieser Zeit nicht mehr appetitlich. Neidisch beäugte er Finchs frisch getoastetes Sandwich, aus dem leuchtend rote gegrillte Paprika und ein blasser Klacks Käse hervorlugten. Eine gedankenlose Bestellung hatte unweigerlich eine Enttäuschung zur Folge. Stephen nahm einen Schluck von seinem Milchkaffee und überlegte, ob er sich nicht Churros bestellen sollte. Die konnte man wenigstens zu jeder beliebigen Zeit essen.
    Finch hatte unrecht – Alice mied ihn, das war unübersehbar, sie wich sogar seinem Blick aus. Sie saß vor ihrem Teller mit den bläulichen Maismehl-Pfannkuchen, und Stephen war überzeugt, dass sie lieber in ihrer eigenen Küche Saisees Grits gegessen hätte. Finch nippte nervös an seinem Kaffee, und sogar Agnete war schweigsam und schob das Essen auf ihrem Teller herum, als wollte sie etwas ausgraben. Anscheinend blieb es ihm überlassen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Gerade wollte er eine mögliche Versteigerung des Triptychons zur Sprache bringen, falls man den dritten Teil fand, als sein Telefon klingelte. Er ignorierte Finchs bösen Blick, zog es hervor und warf einen Blick auf die Nummer. Mrs. Blankenship. Mit einer gemur melten Entschuldigung stand er auf – weniger, weil er sich plötzlich an seine gute Kinderstube erinnerte, sondern weil Finch energisch auf die Lobby deutete. Dort sank er in einen der tiefen Ledersessel und hörte seine Mailbox ab. Drei Anrufe von Mrs. Blankenship, der erste schon um sechs Uhr Santa-Fe-Zeit, acht Uhr in New York. Das war ungewöhnlich früh, aber vielleicht hatte sie ein Problem mit dem Download seiner Datei gehabt. Beim dritten Anruf vor einer guten Stunde hatte sie eine Nachricht hinterlassen, und kurz bevor er sie abhörte, überfiel ihn eine schreckliche Vorahnung, eine Erinnerung, die er verzweifelt zu verdrängen versucht hatte: die Anrufe seiner Mutter in Rom.
    Er wusste später nicht mehr, wie er in den Speisesaal zurückgefunden oder sich hingesetzt oder die Serviette im Schoß ausgebreitet hatte. Er wusste nur, dass es da etwas gab, was er auf keinen Fall vor Alice aussprechen durfte. Oder vor Agnete. Er sah zu Finch hinüber, und ihm wurde klar, dass es Finch genauso treffen würde, wenn auch auf andere Weise. Solange niemand eine Frage stellte, musste er nichts sagen, und solange er es nicht aussprach, musste es nicht wahr sein.
    »Stephen?«, fragte Finch beunruhigt.
    Er weinte. Er konnte sich nicht erinnern, in Rom geweint zu haben, als er die zittrige Stimme seiner Mutter am Telefon hörte, oder bei der Trauerfeier, während die endlose Prozession der Trauergäste an ihm vorbeidefilierte. Nicht einmal auf dem Friedhof, als sie im Regen standen und sein nasses Gesicht sich wie gefroren anfühlte. Aber diesmal war es gar nicht nötig, den Mund aufzumachen; Finch, der ihn so unbegreiflich gut kannte, wusste genau, was passiert war.
    Alles, was danach kam – die Entscheidungen, die Pläne, die Anrufe, die Flüge –, rauschte über ihn hinweg wie ein Schneesturm. Alle Informationen prallten an ihm ab; er wartete, bis jemand ihm eine Richtung zeigte und einen Schubs gab. Geh dahin, tu dies, pack das ein. Finch ließ sich die Details von Mrs. Blankenship erläutern: Erst war es Thomas besser gegangen, dann wieder schlechter. Thomas hatte die Fotos gesehen, die Stephen geschickt hatte, und hatte munterer gewirkt, aber als sie später mit dem Frühstück zurückgekommen war, hatte er Fieber gehabt und ganz grau ausgesehen. Sie hatte den Arzt gerufen und dann auf den Rat der Tagschwester hin gleich darauf die Ambulanz. Thomas war mit den Fotos in der Hand gestorben.
    »Ich habe ihn enttäuscht«, sagte Stephen zu Finch, während sie auf Alice und Agnete warteten, die mit ihrem Gepäck zum Hotel kommen wollten.
    »Stephen, Sie haben ihm sein Wiedersehen ermöglicht, auch wenn er nicht selbst anwesend war.« Finch wählte seine Worte sorgfältig und sprach langsam wie zu einem Kind. »Er war sehr krank. Leberversagen, sagt der Arzt. Er konnte nicht mehr gesund werden. Das wissen Sie, oder?« Finchs Stimme schwebte wie eine tröstliche Wolke über
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