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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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seine Wohnung war. Mrs. Blankenship saß in ihrem bis zum Hals zugeknöpften Mantel und mit Handschuhen im kalten Wohnzimmer auf der Stuhlkante und wartete auf ihn, ein zusammengefaltetes Blatt Papier zwischen den Fingern. Die Heizung musste wieder einmal ausgefallen sein. Oder Cranstons Großzügig keit hatte ein abruptes Ende gefunden. Finch würde jemanden anrufen müssen.
    »Ich kann nicht mehr in die hinteren Räume«, sagte Mrs. Blankenship. »Es macht mich so traurig.« Sie drückte ihm das Blatt in die Hand. »Das lag in der Nachttischschublade. Ich habe es gefunden, als ich seine Sachen ausgeräumt habe – Medikamente, Brille, Haarbürste. Viel war es nicht.«
    Ein Hort kleiner Eitelkeiten. Finch konnte sich nicht erinnern, Thomas je mit einer Brille gesehen zu haben. Er nahm das Blatt entgegen.
    »Ich habe es nicht gelesen.« Sie wich seinem Blick aus, was ihn an ihrer Ehrlichkeit zweifeln ließ.
    »Wir sehen uns dann morgen bei der Trauerfeier«, sagte er.
    Mrs. Blankenship nickte. »Wollen Sie, dass ich bleibe?«
    »Gehen Sie nur. Ich schließe ab.« Finch drückte ihr die Hand und merkte, dass sie wahrhaftig trauerte. Sie und Thomas hatten über all die Jahre, in denen sie geordnet und sortiert, sich gekümmert und ihm hinterhergeräumt hatte, eine ganz eigene Beziehung aufgebaut. Worüber hatten sie sich wohl unterhalten? Finch schüttelte den Kopf, als sie ihm ihre Wohnungsschlüssel aushändigen wollte. »Das regeln wir später.« Wer weiß, vielleicht hatte Stephen ein Interesse daran, hier zu wohnen, oder Agnete.
    Nachdem Mrs. Blankenship gegangen war, senkte sich dieselbe dumpfe Stille auf den Raum, die Monate zuvor im Sommerhaus auf ihm gelastet hatte. Er ging in Thomas’ Schlafzimmer und zog die Vorhänge auf. Dann setzte er sich auf einen Stuhl am Fenster und faltete das Blatt auseinander. Es war ein Brief.
    Mr. Stephen Jameson
    c /o Murchison & Dunne, 22. Stockwerk
    1. Oktober 2007
    Stephen,
    ich habe von anderen gehört, dass Du Direktheit schätzt und wenig Geduld für das umständliche Geplänkel hast, das man heutzutage Gespräch nennt. Nun gut. Ich weiß noch nicht, ob Du und ich je das Vergnügen haben werden, uns kennenzulernen. Ich habe auf den Wunsch Deiner Mutter hin und aus Respekt vor ihrem Mann vor Jahren das Versprechen abgelegt, nie Kontakt zu Dir aufzunehmen, und diese Vereinbarung bis jetzt auch eingehalten. Aber da die Zeit, die ich noch vor mir habe, kürzer wird, hätte ich gerne die Chance, meinen Sohn wenigstens einmal zu sehen.
    Ich habe Deine Mutter nicht geliebt, und sie hat rasch festgestellt, dass auch sie mich nicht geliebt hat. Ich will mein Verhalten in der Vergangenheit und Gegenwart nicht rechtfertigen. Ich bin mein Leben lang nur meinen eigenen Interessen gefolgt, und jetzt ist von diesem Leben das übrig, was ich verdient habe. Dein Vater – der Mann, der Dich aufgezogen hat – war ein guter Mensch, aber dieser Begriff wird seinem Charakter nicht gerecht. Er war ein viel besserer Vater, als ich es je sein wollte.
    Du hast eine Schwester, Stephen, eine Halbschwester, genauer gesagt. Ich weiß nicht, wo sie lebt, aber ich hege die Hoffnung, dass Du sie finden wirst und dass sie mehr von ihrer Mutter hat als von mir; allerdings kann man sich schwerlich vorstellen, dass Gott die Existenz von zwei Menschen zulassen würde, die von derselben Hand gezeichnet wurden. Wenn du einmal einen Rat brauchst, wende Dich an Dennis Finch. Er ist ein Mann mit Prinzipien und Herz, jemand, der sich Deine besten Eigenschaften in Erinnerung ruft und sich gleichzeitig bemüht, Dir die schlimmsten zu verzeihen. Kurz gesagt, er ist ein Freund. Du kannst darauf vertrauen, dass er so handelt, wie er spricht – ein Wesenszug, der immer seltener wird.
    Es ist schwer, einem Menschen, der einem nicht fremd sein sollte, es jedoch ist, etwas zu wünschen. Deshalb sage ich nur eines: Das Talent eines Künstlers wird oft danach bemessen, wie gut er Licht und Schatten darstellen kann. Wenn Du eine Wahl hast, suche in deinem Leben immer das erstere.
    Thomas Bayber.
    Finch faltete das Blatt zusammen und steckte es in seine Jackentasche. Ihm kamen Baybers Worte an jenem Oktobernachmittag in den Sinn. Wäre es so merkwürdig, wenn ich wiederhaben wollte, was ich einmal gehabt habe – genau wie du? Es war nie das Triptychon gewesen, das Thomas wiederfinden wollte. Finch blickte aus dem Fenster und sah zu, wie die Sonne einen breiten Lichtstreifen auf die Gebäude auf der anderen Straßenseite
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