Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
Vom Netzwerk:
ab: »Klug. Willensstark. Ehrgeizig. Ehrlich. Zu vorsichtig. Loyal bis ins Letzte. Natalie sagte, sie habe sich in ihrer Jugend immer darauf verlassen können, dass Alice zu ihr halte, Alice sei ihr anderes, besseres Ich gewesen.«
    »Aber …«
    »Sie hat mir erzählt, meine Mutter sei bei meiner Geburt gestorben.«
    Stephens Bild von Natalie als einer faszinierenden, verführerischen Außenseiterin verflüchtigte sich. Agnete hob wieder das Gesicht und blinzelte heftig.
    »Haben Sie was im Auge?«
    Sie starrte ihn ungläubig an. Dann brach sie in ein Gelächter aus, das so hell wie das von Lydia klang, aber herzlicher und voller war. »Ich versuche, nicht zu weinen.«
    »Ah. Okay.« Stephen klopfte sich wie zur Bestätigung auf die Knie. »Dann hassen Sie also Ihre Tante. Absolut nachvollziehbar.«
    Agnete bohrte ihre Stiefelspitze in den Boden. »Warum sollte ich?« Sie berührte Stephen leicht am Ärmel. »Sie haben nicht die Erlaubnis, über sie zu urteilen, Stephen. Das ist mir vorbehalten. Und Alice. Außerdem möchte ich daran glauben, dass mir Natalie aus einer Laune heraus die Unwahrheit gesagt hat. Und dann nicht mehr wusste, wie sie das rückgängig machen sollte.«
    »Sie verteidigen sie?«
    »Natürlich nicht. Aber Menschen tun nun mal Dinge, die sie eigentlich nicht tun wollen. Man ist wütend. Man erlaubt sich den Luxus, etwas Schreckliches in Erwägung zu ziehen. Man will natürlich nicht wirklich so handeln, aber man gibt dem Gedanken Raum im Kopf. Er gräbt sich ein, bleibt wachsam, wartet auf eine Gelegenheit. Und wenn man plötzlich eine Entscheidung treffen muss, ist er da und scheint ebenso durchführbar wie eine vernünftigere Option, eine moralisch korrekte Reaktion. Und so wählt man ihn. Und wird durch eine einzige Entscheidung zu einem anderen Menschen, einem Menschen, der zu etwas Verwerflichem fähig ist. Man redet sich ein, das sei vollkommen gerechtfertigt. Was bleibt einem auch anderes übrig? Und falls, nein, wenn man dann Zweifel bekommt, findet man den Weg zurück nicht mehr und macht immer weiter, begeht denselben Fehler immer und immer wieder.«
    Er starrte auf ihre Finger und stellte sich vor, wie sie ein Stück Ton kneteten. »Es wundert mich, dass Sie so gütig sein können.«
    »Mit Güte hat das nichts zu tun. Ich will, dass sie Frieden hat. Natalie hat gelitten.«
    »Unter Schuldgefühlen?«
    »Reue, glaube ich. Und der Angst vor dem Alleinsein. Ich spürte das immer beim Abschied; sie klammerte sich regelrecht an mich. Es war eine merkwürdige Umarmung, voller Gier, als wollte sie, dass wir zu einer Person verschmelzen. Und das kann ich verstehen. Es ist schrecklich, wenn man sich ganz allein auf der Welt fühlt.«
    »Und was ist mit dem Gemälde? Hat Natalie nie darüber gesprochen? Oder die anderen Teile erwähnt?«
    »Therese hat mir verraten, dass das Bild von einem Freund der Familie gemalt wurde. Mehr wollte ich nicht wissen. Ich habe es, ehrlich gesagt, nie gemocht. Meine Tante muss es mitgebracht haben, als sie das Haus kaufte, oder sie hat es Therese mitgegeben. Als ich klein war, hatte ich Angst davor. Natalie sah darauf so streng aus. Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Jetzt nehme ich es kaum noch bewusst wahr.«
    »Aber Sie erkennen, dass etwas Besonderes daran ist, oder? Ihr Vater ist ein Genie. Ich könnte dieses Bild bis zum Ende meines Lebens jeden Tag betrachten und würde es nie satt bekommen.« Er zog ein Blatt Papier von dem Zeichenblock, auf dem er sich Notizen gemacht hatte, und skizzierte rasch die Haupttafel des Triptychons. »Wenn Sie die beiden Teile zusammen sehen könnten, wären Sie verblüfft über die Farbübergänge. Die beiden Teile gehen nahtlos ineinander über, heller in der Mitte, dunkler an beiden Seiten, als wollten sie etwas über die Ungewissheit der Zukunft aussagen. Die Schatteneffekte, der Lichteinfall durch das Fenster, vor dem Natalie steht, die Pinselstriche für den Rock – man kann das Wildleder fast zwischen den Fingern spüren. Es ist vermutlich mehrere Millionen Dollar wert, Agnete. Sogar ohne die fehlende Tafel.«
    »Ich hätte dieses Geld sofort gegen meine Familie eingetauscht.« Agnete wandte den Kopf ab. »Sie sehen nur Farb schichten, Stephen. Ich sehe mein Leben vor mir. Und alles, was ich sehe, wenn ich dieses Gemälde betrachte, sind die Menschen, die darauf fehlen.«
    Nach dem Essen arrangierte Stephen mit großem Eifer die Kesslers unter dem Gemälde. Stühle wurden verrückt, Gegenstände herbeigeholt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher