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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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um die nötige Ausgewogenheit zu schaffen, die Position von Armen und Beinen wurde verändert, Gesichter gedreht und nach oben gewendet. Finch war erschöpft und verlor allmählich die Geduld, vor allem als er Alice die Anstrengung anmerkte. »Sie sind nicht Stieglitz, Stephen. Knipsen Sie Ihr Foto. Wir sind schon viel zu lange hier.«
    Stephen scheuchte Finch weg, aber er machte mehrere Aufnahmen in schneller Folge und dann noch einige nur von dem Gemälde.
    »Professor Finch, würden Sie ein Foto von Stephen und mir machen? Ich will ihn damit erpressen; er hat mir schließlich versprochen, dass er mir eine Skulptur abkauft.« Agnete schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und Finch wurde es warm ums Herz. Er half Alice, von dem harten Stuhl aufzustehen, auf den Stephen sie gesetzt hatte. Stephen und Agnete posierten unentwegt plappernd vor dem Kamin. Sie hatten einander die Arme locker um die Schultern gelegt und die Köpfe einander zugeneigt, ihre Haare verschmolzen zu einer schwarzen Masse. Finch staunte. Hatte er je im Leben so vor Energie vibriert? Unwahrscheinlich. Er spähte durch den Sucher von Stephens 35-mm-Kamera, drehte am Objektiv, fummelte am Zoom herum, versuchte, Stephen und Agnete scharf zu stellen. »Irgendwas stimmt hier nicht«, fing er an, setzte die Kamera ab und betrachtete die beiden genauer. Sein Herz klopfte. Gesichtsform, Adlernase, hohe Wangenknochen – alles war identisch. Warum war ihm das bloß nicht früher aufgefallen? Er blickte wieder durch den Sucher und hoffte inständig, dass er sich getäuscht hatte. Aber die Kamera war vollkommen in Ordnung. Das Bild war gestochen scharf.
    Er setzte sich auf die oberste Stufe und reichte Alice die Kamera. »Könnten Sie …«
    »Die Knöpfe und Rädchen sind leider zu klein für meine Finger.«
    »Nein, nur durchschauen.« Finch gab ihr die Kamera und konzentrierte sich auf einen Kratzer auf der Treppenfliese, weil er ihre Reaktion nicht sehen wollte. Sie starrte lange durch den Sucher und legte dann die Kamera ab. Auf einmal lag ihre Hand auf seinem Arm, und als er den Kopf hob, erkannte er in ihren weit aufgerissenen Augen und leicht geöffneten Lippen seine eigene Ungläubigkeit. Er verfluchte Thomas im Stillen. Und Dylans Frau gleich mit. Deshalb also hatte er auf Stephen bestanden.
    »Sie werden es ihm sagen müssen«, flüsterte Alice.
    Finch schnürte es das Herz zusammen. »Das kann ich nicht.«
    »Finch, er muss es wissen. Und zwar bald.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf die beiden jungen Leute, die immer noch vor dem Feuer standen und angeregt diskutierten.
    Finch rief ein Taxi. Agnete und Alice hätten schon genug für sie getan, erklärte er bestimmt, und alle hätten sich ihren Schlaf verdient. Schließlich gab Agnete nach, schlang dem überraschten Finch die Arme um den Nacken und küsste Stephen auf die Wange. Sie vereinbarten, sich am nächsten Vormittag im Hotel zu einem späten Frühstück zu treffen. Finch war auf dem kurzen Rückweg sehr still und vermied es, Stephen anzusehen.
    »Hab ich was falsch gemacht, Finch?«
    »Hm? Nein, nein. Haben Sie nicht.« Finch knirschte mit den Zähnen.
    »Alice schien mich nicht besonders zu mögen.«
    »Wirklich? Das ist mir nicht aufgefallen.« Finch starrte aus dem Seitenfenster des Taxis auf die Lichterketten in den Bäumen, die in der kalten Luft schimmerten und funkelten. »Sicher muss sie die Enthüllungen des Tages erst noch verdauen. Es ging ja Schlag auf Schlag.«
    Im Hotel teilte er, bevor er Stephen Gute Nacht sagte, noch die Aufgaben zu. Stephen bekam den Auftrag, Cranston per Mail zu informieren und die Fotos von der zweiten Tafel des Triptychons ins Labor zu schicken, Bayber dagegen wollte er auf alle Fälle selbst benachrichtigen. »Und das verdammte Ding stelle ich jetzt ab«, sagte er, sein Handy schwenkend. »Lydia hat meine Zimmernummer, wenn sie mich braucht, und Sie auch.«
    Nachdem er die Zimmertür hinter sich abgeschlossen hatte, fiel er schwer aufs Bett. Dass man in Kauf nahm, unter Umständen einer Fremden – Agnete – Schmerz zuzufügen, war eine Sache. Aber Agnete war bei der Planung ein Fantasiegebilde gewesen, keine echte Person. Stephen war echt, er war ein erstaunlich liebenswerter, hektischer, brillanter Chaot, der sich verzweifelt Anerkennung von dem einen Menschen wünschte, der sie ihm nicht mehr geben konnte – dem Mann, den er Vater nannte.
    Der Gedanke, dass er gezwungen war, Stephen etwas mitzuteilen, was diesem den Boden unter den Füßen
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