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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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Stephen. »Wenn irgend möglich, sollten Sie Agnete unterstützen. Denken Sie daran, sie hatte nie die Chance, ihrem Vater zu begegnen. Kein einziges Mal.«
    Finch hatte über eine Stunde herumtelefoniert, um für sie beide einen Direktflug nach New York zu bekommen, aber so kurz vor Weihnachten waren alle Flüge ausgebucht oder hätten komplizierte Flugrouten zur Folge gehabt – viele Stunden in der Luft und am Boden. So wurde entschieden, dass sie ihre Tickets behalten, zunächst mit Alice und Agnete für ein paar Tage nach Tennessee fliegen und dann alle zusammen nach New York weiterreisen würden.
    »Ich muss zuerst nach Hause«, sagte Alice, und Stephen hörte die vorsichtige Betonung der Worte nach Hause , als probierte sie den Begriff an wie ein Kleid. »Ich muss Phinneaus sehen.« Es klang wie Ich brauche Luft .
    Sie war betroffener, als Stephen erwartet hatte. Immerhin hatte sie Thomas seit über fünfunddreißig Jahren nicht gesehen. Doch wahrscheinlich hatte sich in letzter Zeit zu viel Unerwartetes angesammelt, das jetzt plötzlich wie ein Springteufelchen mit wedelnden Armen aus einer Schachtel heraus auf sie zusprang. Zu viert standen sie eng beieinander in Warteschlangen und am Gate, im Flugzeug saßen sie in einer Reihe – vier aschgraue Menschen mit düsteren Mienen, die hin und wieder weinten, aber selten gleichzeitig oder aus demselben Grund. Phinneaus holte sie in Memphis ab.
    »Sie sollten fahren«, sagte Stephen zu ihm. Seine Stimme klang kratzig nach zu vielen Stunden in der recycelten Kabinenluft.
    »Es ist mein Auto, Stephen«, erwiderte Phinneaus.
    »Klar. Geben Sie die Schlüssel nur nicht Finch. Er wird am Steuer zum Berserker.«
    »Steigen Sie hinten ein, Stephen.«
    Wenn er allein mit Finch fuhr, war Stephen wenigstens der Beifahrersitz sicher. Jetzt musste er sich zu Agnete und Finch auf den Rücksitz quetschen. Finch saß in der Mitte, weil er die kürzesten Beine hatte. Auf der Fahrt nach Orion nickte Stephen immer wieder ein und fuhr zwischendurch verwirrt und desorientiert hoch. Alice saß so dicht neben Phinneaus auf der Vorderbank, dass Stephen in der Abenddämmerung kaum unterscheiden konnte, wo die eine Silhouette aufhörte und die andere anfing. Ihm kam der Gedanke, dass er bald wieder allein sein würde. Nach der Beerdigung würden Alice und Phinneaus nach Tennessee zurückfliegen und Agnete nach Santa Fe. Finch würde zwei fellos künftig von seiner Großvaterrolle und seinem Unterricht ganz und gar absorbiert sein. Der Professor schnarchte im Schlaf, sein Kopf rollte von rechts nach links. Wer würde sich um den Mann kümmern, wenn all das hier vorüber war? Lydia nicht – sie und Kelvin hatten bald anderes zu tun. Stephen schälte sich aus seinem Mantel und klemmte ihn unter Finchs Nacken. Wer würde ihm wegen seines waghalsigen Fahrstils ins Gewissen reden? Wer würde seine abwegigen und letzten Endes falschen Argumente bezüglich der Bedeutung des amerikanischen Regionalismus verstehen? Mit oder ohne die fehlende Tafel, in einem etwas größeren Büro oder der alten dunklen Kammer, war Stephen der Einzige, der in sein altes Leben zurückkehrte. Bayber war gestorben, und das, was Stephen sich am meisten gewünscht hatte – die beiden Tafeln mitzubringen –, war nicht geglückt.
    In Orion purzelte er durch die Tür in das Haus, das er bisher nur einmal betreten hatte. Er war dankbar, dass sich gleich ein vertrautes Gefühl einstellte – der Klang von Saisees Stimme, der Geruch aus ihren Kochtöpfen, das warme Aroma in der Küche. Und Frankie, der, nachdem er Alice vorsichtig umarmt hatte, Stephen damit überraschte, dass er die Arme um seine Hüften schlang und ihn am Weitergehen hinderte. So stürmisch war er beim letzten Mal nicht willkommen geheißen worden.
    »Dein Auge sieht viel besser aus«, sagte Frankie.
    Wie lang war aus Kindersicht die Zeitspanne seit seinem letzten Besuch? In Erwachsenenzeit waren es Ewigkeiten. Saisee war in ihrem Element; sie genoss es, das Haus voller Leute zu haben, die sie brauchten, die sie bekochen, deren Wäsche sie waschen und denen sie Räume zuweisen konnte. Sie hatte Thomas nicht gekannt und hatte keinen Bezug zu ihm außer über Agnete, die sie wie eine lang vermisste Puppe behandelte. Sie flatterte ständig um sie herum, strich ihr über die Haare oder befingerte den Stoff ihres Mantels.
    Als Stephen am nächsten Morgen ins Wohnzimmer schlurfte, bot sich ihm ein bemerkenswerter Anblick. Agnete saß auf dem Fußboden neben
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