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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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starrte ihn an.
    »Na ja«, sagte Gil. »Nur, um es mal zu sehen.«
    Am Ende jedes Tunnels führte eine Leiter hinauf zur Ausstiegsluke. Jun Dos Männer rissen sich darum, wer hinaufklettern und ein bisschen in Südkorea spazieren gehen durfte. Bei ihrer Rückkehr erzählten sie dann von Maschinen, dieGeld auswarfen, und Leuten, die Hundekacke aufsammelten und in Plastiktüten steckten. Jun Do sah es sich nie an. Er wusste, dass es dort riesige Fernsehapparate gab und so viel Reis, wie man nur essen konnte. Doch er wollte nichts damit zu tun haben – er hatte Angst, dass sein gesamtes Leben bedeutungslos würde, wenn er all das mit eigenen Augen sah. Einem alten, vom Hunger erblindeten Mann Rüben stehlen? Sinnlos wäre es gewesen. Einen anderen Jungen zum Reinigen der Bottiche in die Farbenfabrik schicken, statt es selbst zu machen? Sinnlos.
    Jun Do warf seine halb verzehrte Pflaume weg. »Ich habe schon Bessere gegessen.«
    Auf dem Pier gingen sie über Holzbohlen, die vom jahrelangen Köderanstecken ganz fleckig waren. Am Ende sahen sie im blauen Schein eines Handys ein Gesicht.
    »Du wirfst ihn über das Geländer«, sagte Jun Do.
    Gil holte tief Luft. »Übers Geländer«, wiederholte er.
    Auf dem Pier lagen leere Flaschen und Zigarettenkippen. Jun Do ging ruhig voran und merkte, dass Gil versuchte, es ihm gleichzutun. Von unten kam das kehlige Schnurren eines Außenborders im Leerlauf. Die Gestalt vor ihnen unterbrach ihr Telefongespräch.
    » Dare ?«, rief ihnen eine Stimme zu. » Dare nano ?«
    »Gib keine Antwort«, flüsterte Jun Do.
    »Das ist eine Frauenstimme«, flüsterte Gil.
    »Gib keine Antwort«, sagte Jun Do.
    Die Kapuze eines Mantels wurde zurückgezogen, und das Gesicht einer jungen Frau kam zum Vorschein.
    »Ich kann das nicht«, sagte Gil.
    »Halt dich an den Plan.«
    Ihre Schritte erschienen ihnen unglaublich laut. Auf einmal kam Jun Do der Gedanke, dass irgendwann Männer aufdie gleiche Weise seine Mutter mitgenommen hatten und dass er jetzt einer von ihnen war.
    Und dann hatten sie das Mädchen erreicht. Sie war klein unter ihrem Mantel. Sie riss den Mund auf, als wollte sie schreien, und Jun Do sah, dass sie auf allen Zähnen feine Metalldrähte hatte. Sie packten das Mädchen bei den Armen und hoben sie hinauf aufs Geländer.
    » Zenzen oyogenai’n desu «, rief sie, und obwohl Jun Do kein Japanisch konnte, war ihm klar, dass es ein flehentliches Geständnis war, so etwas wie: »Ich bin noch Jungfrau!«
    Sie stießen sie übers Geländer. Sie fiel lautlos, kein Wort, nicht einmal ein Luftschnappen. Aber Jun Do sah etwas in ihren Augen aufleuchten – es war weder Angst noch der Gedanke, wie sinnlos das Ganze war. Er war sich fast sicher, dass sie an ihre Eltern dachte: Dass sie nie erfahren würden, was aus ihr geworden war.
    Unter ihnen waren ein Platschen und das Aufheulen eines Außenborders zu hören.
    Jun Do wurde diesen Ausdruck in ihren Augen nicht los.
    Auf dem Pier lag noch ihr Handy. Er hob es auf und hielt es ans Ohr. Gil wollte etwas sagen, aber Jun Do bedeutete ihm zu schweigen. »Mayumi?«, fragte eine Frauenstimme. »Mayumi?« Jun Do drückte auf mehrere Knöpfe, damit es aufhörte. Als er sich über das Geländer lehnte, schaukelte unter ihm das Boot auf den Wellen.
    »Wo ist sie?«, fragte Jun Do.
    Offizier So starrte ins Wasser. »Untergegangen«, antwortete er.
    »Wie meinen Sie das, sie ist untergegangen?«
    Der Alte hob die Hände. »Ins Wasser gefallen, dann war sie weg.«
    Jun Do drehte sich zu Gil um. »Was hat sie gesagt?«
    Gil antwortete: »Sie hat gesagt: Ich kann nicht schwimmen .«
    » Ich kann nicht schwimmen ?«, fragte Jun Do. »Sie hat gesagt, dass sie nicht schwimmen kann, und du hast nichts getan?«
    »Der Plan war, sie übers Geländer zu werfen. Du hast gesagt, wir halten uns an den Plan.«
    Jun Do blickte wieder in das schwarze Wasser, das hier am Ende des Piers ziemlich tief war. Da unten war sie, ihr weiter Mantel von der Strömung gebläht wie ein Segel, der ihren Körper über den Sandboden zog.
    Das Handy klingelte. Es leuchtete blau auf und vibrierte in Jun Dos Hand. Gil und er starrten es an. Gil nahm das Handy, drückte auf den kleinen grünen Hörer und lauschte mit aufgerissenen Augen. Jun Do hörte genau, dass es eine Frauenstimme war, eine Mutter. »Wirf es weg«, befahl Jun Do ihm. »Ins Wasser damit.«
    Gils Augen huschten hin und her, während er zuhörte. Seine Hand zitterte. Er nickte mehrmals mit dem Kopf. Als er » Hai «
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