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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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Witz. Ich habe nicht mitgezählt. Vergiss sie einfach sofort. Zähl nicht mit, auf keinen Fall.«
    Obwohl der Außenborder sehr laut war, konnten sie den Hund am Ufer immer noch hören. Selbst als sie schon weit draußen auf dem Wasser waren, drang sein verzweifeltes Gebell noch zu ihnen herüber, und Jun Do wusste, dass ihm dieses Bellen für immer in den Ohren klingen würde.
    *
    Sie übernachteten auf einer Songun-Basis in der Nähe der Hafenstadt Kinjye. Ringsum lagen die Erdbunker der Boden-Luft-Raketen, und als die Sonne untergegangen war, leuchteten die weißen Werferbatterien im Mondlicht. Weil sie in Japan gewesen waren, mussten die drei sich von den übrigen Soldaten fernhalten. Sie wurden in der Krankenstube untergebracht, einem kleinen Raum mit sechs Pritschen. Dass es eine Krankenstube war, konnte man nur an dem einsamen Regal mit Gerätschaften zum Blutabnehmen und dem alten chinesischen Kühlschrank mit einem roten Kreuz auf der Tür erkennen.
    Den Japaner hatten sie in einen der heißen Verschläge auf dem Exerzierplatz gesperrt, und Gil war jetzt da draußen und übte durch ein Loch in der Tür Japanisch. Jun Do und Offizier So lehnten im Fenster der Krankenstube und teilten sich eine Zigarette, während sie Gil beobachteten, der im Dreck saß und allen Ernstes mit Hilfe des Mannes, an dessen Entführung er selbst beteiligt gewesen war, idiomatische Ausdrücke übte. Offizier So schüttelte ungläubig den Kopf. Ein Patient befand sich ebenfalls auf der Krankenstube, ein kleiner Soldat, um die sechzehn, mit von der Hungersnot verkümmertem Knochenbau. Er lag mit klappernden Zähnen auf einer Pritsche. Von ihrem Zigarettenrauch bekam er Hustenanfälle. Sie rückten seine Pritsche so weit weg, wie das in dem kleinen Raum ging, aber er war immer noch nicht still.
    Einen Arzt gab es nicht. Die Krankenstube war ein Raum, in dem kranke Soldaten so lange lagen, bis klar war, dass sie nicht wieder gesund würden. Wenn sich der junge Soldat bis zum Morgen nicht berappelt hatte, würde die Militärpolizei kommen, ihm eine Kanüle setzen und ihm vier Beutel Blut abzapfen. Jun Do hatte das früher schon mitangesehen und den Eindruck gewonnen, dass es kein schlechter Abgang war.Es dauerte nur ein paar Minuten – erst wurden sie schläfrig, dann schauten sie verträumt, und wenn sie gegen Ende ein bisschen panisch wurden, machte das nichts, denn reden konnten sie nicht mehr. Bevor das Licht endgültig ausging, sahen sie wohlig verwirrt aus, wie eine Grille, der man die Fühler ausgerupft hat.
    Der Lagergenerator wurde ausgeschaltet, die Lichter gingen allmählich aus, und der Kühlschrank hörte auf zu rattern.
    Offizier So und Jun Do legten sich hin.
    Es war einmal ein Japaner. Er führte seinen Hund aus. Und dann war er weg, war nirgendwo. Für die Menschen, die ihn kannten, würde er für immer im Nirgendwo sein. So war es Jun Do früher immer mit den Jungen gegangen, die von den Männern mit chinesischem Akzent ausgesucht wurden. Eben waren sie noch da, und dann waren sie weg und verschwunden, wie Bo Song, im Nirgendwo. So dachte er über die meisten Menschen – sie tauchten in seinem Leben auf wie Findelkinder an der Türschwelle, nur um dann später wie von einer großen Flut weggespült zu werden. Aber Bo Song war nicht einfach weg – ob er hinunter zu den Aalen gesunken oder aufgedunsen mit der Flut Richtung Norden nach Wladiwostok gespült worden war – irgendwo war er geblieben. Auch der Japaner war nicht weg – er war in dem stickigen Verschlag, draußen auf dem Exerzierplatz. Und seine Mutter, dachte Jun Do auf einmal – sie war auch irgendwo, in eben diesem Augenblick, in einer Wohnung in der Hauptstadt, sah vielleicht in den Spiegel und bürstete sich vor dem Schlafengehen die Haare.
    Zum ersten Mal seit Jahren schloss Jun Do die Augen und stellte sich ihr Gesicht vor. Es war gefährlich, Menschen so herbeizuträumen. Denn plötzlich waren sie dann bei ihm im Tunnel. Das war früher oft passiert, wenn er an Kinder aus F rohe Zukunft gedacht hatte. Einmal nicht aufgepasst, und schon folgt dir im Dunkeln ein Junge und stellt dir Fragen: Warum warst du nicht derjenige, der vor Kälte gestorben ist, warum bist nicht du in den Farbbottich gefallen? Und schon ist man überzeugt, dass einem jeden Augenblick ein Fußtritt durchs Gesicht wischen kann.
    Aber da war sie, seine Mutter. Während er dort lag und dem schlotternden Soldaten lauschte, hörte er sie singen. »Arirang«, sang sie mit wehmütiger
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