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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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Leibeskräften. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Schritte vor ihm im Sand, dumpf, wie Herzpochen. Dann schloss er die Augen. In den Tunneln hatte Jun Do gelernt, Menschen zu spüren, ohne sie zu sehen. Wenn jemand da war, dann fühlte er das, und wenn er in Reichweite gelangte, konnte er denjenigen zielgenau ansteuern. Sein Vater, der Waisenhausaufseher, hatte ihm immer das Gefühl vermittelt, seine Mutter sei tot, aber das stimmte nicht, sie war gesund und am Leben, nur außer Reichweite. Und auch wenn er nie gehört hatte, was aus dem Waisenhausaufseher geworden war, spürte Jun Do, dass sein Vater nicht mehr lebte. Das Kämpfen im Dunkeln funktionierte nicht anders: Man musste seinen Gegner spüren, durfte sich aber auf keinen Fall seiner Fantasie überlassen. Die Dunkelheit im eigenen Kopf füllte sich zu schnell mit Geschichten, die nichts mit der echten Dunkelheit um einen herum zu tun hatten.
    Vor ihm war der dumpfe Aufprall eines Menschen auf dem Boden zu hören – etwas, was Jun Do schon tausend Mal gehört hatte. Er stoppte neben dem Mann, der sich aufzurichten versuchte. Sein mit Sand bedecktes Gesicht leuchtete gespenstisch. Beide keuchten und schnappten nach Luft, beider Atem eine einzige weiße Wolke.
    Tatsächlich schnitt Jun Do bei Wettkämpfen nie besonders gut ab. Beim Kampf im Dunkeln verriet ein leichter Haken dem Gegner nur, wo man war. Im Dunkeln musste man zuschlagen, als wolle man mit der Faust durch seinen Gegner hindurchstoßen. Maximale Reichweite war wichtig – weiteSchwinger, wirbelnde Drehtritte, die eine Menge Raum abdeckten und den anderen sofort zu Fall brachten. Bei einem Wettkampf aber sah der Gegner solche Angriffe kilometerweit kommen und brauchte bloß auszuweichen. Aber ein Mann nachts am Strand, der unsicher dastand? Jun Do versetzte ihm einen rückwärtigen Schnapptritt an den Kopf, und der Fremde ging zu Boden.
    Der Hund stand nicht einen Moment still – aus Aufregung vielleicht, oder aus Enttäuschung. Er scharrte neben dem Bewusstlosen im Sand und ließ den Ball fallen. Jun Do hätte den Ball gern geworfen, wagte sich aber nicht in die Nähe dieser Zähne. Der Schwanz wedelte nicht, merkte Jun Do plötzlich. Etwas schimmerte im Sand – die Brille des Mannes. Jun Do setzte sie auf, und der diffuse Schein über den Dünen verwandelte sich in scharf umrissene Lichtpunkte: Fenster. Die Japaner wohnten nicht in großen Häuserblocks, sondern in kleineren Einzelbaracken.
    Jun Do steckte die Brille ein, packte den Mann bei den Füßen und zog ihn hinter sich her. Der Hund gab kurze, aggressive Kläffer von sich. Als Jun Do über die Schulter blickte, knurrte der Hund das Gesicht des Mannes an und kratzte ihm über Stirn und Wangen. Jun Do senkte den Kopf und zog weiter. Der erste Tag im Tunnel ist kein Problem, aber wenn man am zweiten Tag aus der Finsternis eines Traums in echter Finsternis erwacht, dann muss man die Augen öffnen. Wenn man sie geschlossen hält, dann laufen alle möglichen verrückten Filme im Kopf ab, ein Hund zum Beispiel, der einen hinterrücks anfällt. Mit offenen Augen braucht man sich nur dem Nichts zu stellen, dem man sich tatsächlich gegenübersieht.
    Als Jun Do endlich in der Dunkelheit das Boot gefunden hatte, ließ er den Bewusstlosen wie einen Sack zwischen dieAluminiumstreben plumpsen. Der Mann machte einmal die Augen auf und gleich wieder zu.
    »Was hast du mit seinem Gesicht angestellt?«, wollte Gil wissen.
    »Wo warst du?«, fragte Jun Do. »Der Kerl ist schwer.«
    »Ich bin nur der Dolmetscher«, antwortete Gil.
    Offizier So schlug Jun Do auf den Rücken. »Nicht schlecht für einen Waisenknaben«, sagte er.
    Jun Do wirbelte zu ihm herum. »Ich bin kein Waisenknabe«, fuhr er ihn an. »Und wieso zum Teufel behaupten Sie, Sie hätten das schon hundert Mal gemacht? Wir fahren raus ohne jeden Plan, außer dass ich jemandem hinterherrenne? Sie sind noch nicht mal ausgestiegen.«
    »Ich wollte sehen, aus was für einem Holz du geschnitzt bist«, erwiderte Offizier So. »Das nächste Mal stellen wir uns schlauer an.«
    »Es gibt kein nächstes Mal«, schnappte Jun Do.
    Gil und Jun Do drehten das Boot in die Wellen. Die Brecher schlugen über ihnen zusammen, während Offizier So am Anlasser zog. Als alle vier an Bord waren und sie aufs offene Meer zuhielten, sagte Offizier So: »Reg dich ab, von jetzt an wird’s einfacher. Denk einfach nicht drüber nach. Als ich gesagt habe, ich hätte siebenundzwanzig Leute entführt, war das ein
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