Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
Vom Netzwerk:
Parteilieder, damit die japanischen Koreaner die Gangway überhaupt herunterkamen, trotz des fürchterlichen Zustands der Stadt und trotz der Krähen, die schon darauf warteten, sie alle in Kwan-li-sos , in Internierungslager, abzutransportieren. Er sah die Heimkehrer, die kräftigen jungen Männer mit ihren schicken neuen Turnschuhen vor sich, als sei es gestern gewesen.
    Jun Do hielt das gelbe Hemd hoch. »Was soll ich damit?«
    »Das ist deine neue Uniform«, antwortete Offizier So. »Seekrank wirst du doch nicht, oder?«
    *
    Wurde er nicht. Sie fuhren mit dem Zug an die Ostküste in die Hafenstadt Chongwang, wo Offizier So ein Fischerboot beschlagnahmte. Die Besatzung hatte solche Angst vor ihren Gästen vom Militär, dass sie ihre Kim Il Sung-Nadeln auf der gesamten Überfahrt nach Japan angesteckt ließen. Auf dem Meer sah Jun Do kleine Fische mit Flügeln, und er sah Spätmorgennebel, der so dicht war, dass er einem die Worte aus dem Mund stahl. Es gab keine Lautsprecher, die den ganzen Tag lang plärrten, und jeder Fischer trug das Bild seiner Frau auf der Brust eintätowiert. Die See war unvorhersehbar – nie wusste man, in welche Richtung man als Nächstes schwanken sollte, und trotzdem fühlte Jun Do sich mit der Zeit wohl. Der Wind in den Masten und Galgen schien sich leise mit den Wellen, die gegen den Bootsrumpf drängten, zu unterhalten, und wenn Jun Do nachts auf dem Dach des Ruderhauses unter den Sternen lag, kam es ihm vor, als sei das Fischerboot ein Ort, an dem man die Augen schließen und durchatmen konnte.
    Offizier So hatte auch einen Dolmetscher mit an Bord gebracht, einen Mann namens Gil. Gil las japanische Romane an Deck und hatte Kopfhörer auf, die mit einem kleinen Kassettenspieler verbunden waren. Jun Do versuchte nur einmal, ihn anzusprechen; er wollte fragen, was er hörte, doch bevor er den Mund aufbekam, hatte Gil schon den Spieler angehalten und sagte: »Opern«.
    Sie würden jemanden abholen, und zwar am Strand, und diesen Jemand würden sie mit nach Hause bringen. Mehr verriet Offizier So nicht über ihre Mission.
    Als es am zweiten Tag dunkel wurde, sahen sie in der Ferne die Lichter einer Stadt, aber der Kapitän wollte nicht näher heranfahren.
    »Das ist Japan«, sagte er. »Für diese Gewässer habe ich keine Karte.«
    »Ich bestimme, wie dicht wir heranfahren«, befahl Offizier So. Einer der Fischer lotete die Wassertiefe aus, und sie hielten aufs Ufer zu.
    Jun Do zog sich um und schnürte den Gürtel fest zu, damit die steife Jeans nicht herunterrutschte.
    »Sind das die Klamotten von dem letzten Kerl, den ihr entführt habt?«, fragte Jun Do.
    Offizier So sagte: »Ich habe seit Jahren niemanden mehr entführt.«
    Ein ungutes Gefühl beschlich Jun Do.
    »Entspann dich«, sagte der Offizier. »Ich hab so was schon hundert Mal gemacht.«
    »Wirklich?«
    »Na ja, siebenundzwanzig Mal.«
    Offizier So hatte ein kleines Skiff mit an Bord gebracht, und als sie der Küste nahe genug waren, ließen die Fischer es zu Wasser. Im Westen ging über Nordkorea die Sonne unter, der Wind wechselte die Richtung, und es kühlte deutlich ab. Das Skiff war winzig, fand Jun Do, eigentlich kaum groß genug für eine Person, und erst recht nicht für drei und ein sich wehrendes Entführungsopfer. Offizier So stieg mit einem Fernglas und einer Thermoskanne hinunter, Gil folgte ihm. Als Jun Do neben Gil Platz nahm, schwappte schwarzes Wasser über die Seite herein, und seine Schuhe waren sofort durchweicht. Er überlegte, ob er preisgeben sollte, dass er nicht schwimmen konnte.
    Gil wollte, dass Jun Do ihm Sätze auf Japanisch nachsprach. Guten Abend – Konban wa . Entschuldigung, ich habe mich verlaufen – Chotto sumimasen, michi ni mayoimashita . Meine Katze ist weg – Watashi no neko ga maigo ni narimashita .
    Der Alte drehte den Bug in Richtung Strand, wobei er den Außenbordmotor, einen müden, russischen Vpresna, viel zu sehr hochjagte. Dann schwenkte er nach Norden, parallel zur Küste, und mit jeder anrollenden Woge neigte sich die Nussschale landwärts, nur um wieder Richtung See zu kippen, sobald der Wellenberg unter ihnen hindurchgeglitten war.
    Gil schnappte sich das Fernglas, doch anstatt den Strand damit abzusuchen, richtete er es auf die hohen Gebäude der Innenstadt, deren Neonlichter gerade zum Leben erwachten.
    »Schaut euch das an«, sagte Gil. »Hier hat kein Beschwerlicher Marsch stattgefunden.«
    Jun Do und Offizier So sahen sich an.
    Offizier So befahl Gil: »Sag ihm noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher