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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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Stimme, fast ein Flüstern, das aus einem unbekannten Irgendwo kam. Sogar die scheiß Waisen wussten, wo ihre Eltern waren.
    Spät in der Nacht kam Gil hereingestolpert. Er öffnete den Kühlschrank, was verboten war, und stellte etwas hinein. Dann ließ er sich auf seine Pritsche fallen. Beim Schlafen streckte Gil Arme und Beine von sich, woran Jun Do erkannte, dass er als Kind sein eigenes Bett gehabt haben musste. Er schlief augenblicklich ein.
    Jun Do und Offizier So standen im Dunkeln auf und gingen an den Kühlschrank, der fast unhörbar kühl ausatmete, als Offizier So am Griff zog. Hinter den Stapeln viereckiger Blutkonserven fischte So eine halbvolle Flasche koreanischen Branntwein heraus. Sie machten die Tür schnell wieder zu, denn das Blut war für Pjöngjang bestimmt, und wenn es verdarb, war die Hölle los.
    Sie stellten sich mit der Flasche ans Fenster. Weit weg bellten Hunde in ihren Zwingern. Am Horizont, über den Raketenbunkern, leuchtete ein schwacher Schein am Himmel: vom Meer reflektiertes Mondlicht. Hinter ihnen fing Gil an, im Schlaf zu furzen.
    Offizier So trank. »Ich glaube, unser guter Gil ist nicht an Hirsebrot und Sorghumsuppe gewöhnt.«
    »Wo zum Teufel habt ihr den her?«, fragte Jun Do.
    »Vergiss ihn«, erwiderte Offizier So. »Ich habe keine Ahnung, warum Pjöngjang nach all den Jahren wieder mit diesen Geschichten angefangen hat, aber in einer Woche ist hoffentlich alles vorbei. Noch eine Mission, und wenn alles gut geht, sehen wir den Kerl nie wieder.«
    Jun Do trank einen Schluck Soju – sein Magen wehrte sich gegen den fruchtigen Alkoholgeschmack.
    »Was für eine Mission ist das?«, fragte er.
    »Erst machen wir noch eine Übung«, antwortete Offizier So. »Dann kommt jemand Besonderes dran. Die Oper von Tokio gastiert den Sommer über in Niigata. Sie haben eine Sopranistin, Rumina heißt sie.«
    Der nächste Schluck Soju floss schon viel besser die Kehle hinab. »Oper?«, fragte Jun Do.
    Offizier So zuckte die Schultern. »Irgendein hohes Tier in Pjöngjang hat wahrscheinlich die Raubkopie von einer Kassette gehört und muss das Goldkehlchen jetzt unbedingt haben.«
    »Gil sagt, er hat einen Landmineneinsatz überlebt«, sagte Jun Do. »Dafür ist er auf die Sprachschule geschickt worden. Stimmt das – funktioniert das so, dass man belohnt wird?«
    »Momentan sind wir auf Gil angewiesen. Aber du hörst nicht auf ihn, verstanden? Du hörst auf mich.«
    Jun Do schwieg.
    »Warum, hast du was im Sinn?«, wollte Offizier So wissen. »Weißt du überhaupt, was du gern als Belohnung hättest?«
    Jun Do schüttelte den Kopf.
    »Na also. Vergiss es.«
    Offizier So ging in die Ecke und lehnte sich über den Latrineneimer. Er stützte sich an der Wand ab und mühte sich sehr lange. Nichts passierte.
    »Ich habe das ein oder andere Wunder vollbracht, damals«, sagte er. »Ich habe eine Belohnung bekommen. Und wo bin ich gelandet?« Er schüttelte den Kopf. »Wünsch dir am besten nur eins: Dass du nicht wirst wie ich.«
    Jun Do starrte aus dem Fenster in Richtung des Verschlags. »Was wird aus ihm?«
    »Dem Hundemann?«, fragte Offizier So zurück. »Wahrscheinlich sitzen schon ein paar Pubyok im Zug, um ihn nach Pjöngjang zu schaffen.«
    »Schon, aber was passiert dann mit ihm?«
    Offizier So versuchte mit einer letzten Anstrengung, etwas Urin herauszupressen.
    »Stell keine blöden Fragen«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen.
    Jun Do dachte an seine Mutter im Zug nach Pjöngjang. »Kann man als Belohnung auch um eine Person bitten?«
    »Was, eine Frau?« Offizier So schüttelte frustriert seinen Umkyuong . »Ja, darum kann man bitten.« Er kam zurück und trank die Flasche aus. Einen winzigen Rest ließ er übrig. Den tröpfelte er dem sterbenden Soldaten auf die Lippen. Offizier So klopfte dem Jungen zum Abschied auf die Brust und steckte ihm die leere Flasche in die schweißnasse Armbeuge.
    *
    Sie übernahmen das Kommando über ein neues Fischerboot und brachen zu einer weiteren Überfahrt auf. Im Tsushima-Becken hörten sie das laute Klicken von tief unter ihnen jagenden Pottwalen, wie Schläge in die Rippen, und als sie in die Nähe der Insel Dogo kamen, ragten mit einem Mal steile Gipfel aus der See, oben weiß von Guano, unten orangebraun von unzähligen Seesternen. Jun Do starrte in Richtung derobsidianschwarzen Nordspitze der Insel, die mit Krüppelfichten bewachsen war. Es war eine Welt, die nur für sich selbst existierte, ohne Ideologie, eine Landschaft, die sich
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