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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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antwortete, griff Jun Do nach dem Ding. Er stach mit dem Finger auf die Knöpfe. Auf dem kleinen Display erschien das Bild eines Babys. Er warf das Handy ins Meer.
    Jun Do trat ans Geländer. »Wie konnten Sie einfach nicht mitzählen?«, schrie er hinunter zu Offizier So. »Wie konnten Sie sie einfach vergessen?«
    *
    Das war das Ende der Testläufe. Es wurde Zeit, sich um die Operndiva zu kümmern. Offizier So würde das Japanische Meer an Bord eines Fischkutters überqueren, während Jun Do und Gil die Nachtfähre von Ch'ŏngjin nach Niigata nahmen. Um Mitternacht würden sie, mit der geraubten Sängerin, Offizier So am Strand treffen. Die Genialität ihres Plans lag in seiner Schlichtheit, erläuterte Offizier So.
    Jun Do und Gil fuhren mit dem Nachmittagszug nach Ch'ŏngjin. Ganze Familien schliefen unter den Güterbahnsteigen und warteten auf den Einbruch der Dunkelheit. Dann würden sie sich auf die Reise nach Sinŭiju machen, wo man nur den Tumen-Fluss zu durchschwimmen brauchte, und man war in China.
    Zu Fuß machten sie sich auf den Weg zum Hafen von Ch'ŏngjin, vorbei am Hüttenwerk »Wiedervereinigung«, dessen Riesenkräne festgerostet waren, die Kupferleitungen zum Hochofen längst von Altmetalldieben geklaut. Wohnblocks standen leer, die Lebensmittelausgabeschalter waren mit Papier zugekleistert. Keine Wäsche hing zum Trocknen draußen, kein Zwiebeldunst lag in der Luft. Sämtliche Bäume waren während der Hungersnot gefällt worden, und jetzt, Jahre später, stand überall gleich hohes Stangenholz mit knöcheldicken Stämmen. An den seltsamsten Stellen wurzelten die Bäumchen – in Regenfässern und Abflussrinnen; ein Baum platzte sogar aus einem Klohäuschen, wo ein menschliches Skelett die unverdauliche Baumsaat ausgeschissen hatte.
    Als sie an Frohe Zukunft vorbeikamen, wirkte es auf Jun Do kaum größer als die KVA-Krankenstube.
    Er hätte es Gil nicht zeigen sollen, denn der wollte natürlich unbedingt hineingehen.
    Hier gab es nur noch die Schatten der Vergangenheit. Alles war verheizt worden – sogar die Türrahmen waren im Feuer gelandet. Das Einzige, was überdauert hatte, war die an die Wand gemalte Übersicht der 114 großen Märtyrer der Revolution.
    Gil konnte nicht glauben, dass Jun Do allen Waisen Namen gegeben hatte.
    »Du kannst wirklich alle Märtyrer auswendig? Wer ist zum Beispiel Nummer 11?«
    »Ha Shin«, antwortete Jun Do. »Als er gefangen genommen wurde, hat er sich selbst die Zunge abgeschnitten, damit die Japaner nichts aus ihm herausholen konnten. Wir hatten einen Jungen, der nicht sprechen wollte – der hat den Namen gekriegt.«
    Gil ließ den Finger über die Namen gleiten. »Märtyrer Nummer 76, Pak Jun Do. Was hat der für eine Geschichte?«
    Jun Do berührte den dunklen Umriss auf dem Boden, wo früher der Ofen gestanden hatte. »Obwohl Jun Do viele japanische Soldaten getötet hatte«, sagte er, »vertrauten ihm die anderen Revolutionäre in seiner Einheit nicht, weil er verdorbener Abstammung war und treuloses Blut hatte. Um seine Loyalität zu beweisen, erhängte er sich.«
    Gil starrte ihn an. »Und den Namen hast du dir gegeben? Warum?«
    »Weil er den größten Loyalitätsbeweis erbracht hat.«
    Wie sich herausstellte, war das Zimmer des Waisenhausaufsehers kaum größer als eine Pritsche. Und vom peinigenden Bild der Frau war nur noch ein Nagelloch geblieben.
    »Hast du hier geschlafen?«, wollte Gil wissen. »Im Zimmer des Waisenhausaufsehers?«
    Jun Do zeigte ihm das Nagelloch. »Da hat das Bild meiner Mutter gehangen.«
    Gil sah es sich an. »Da war mal ein Nagel, stimmt«, sagte er. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du einen Waisennamen hast, wenn du mit deinem Vater zusammengewohnt hast?«
    »Seinen Namen konnte er mir nicht geben«, sagte Jun Do,»sonst hätte jeder gemerkt, in welcher Schande er seinen Sohn aufziehen musste. Und er konnte es nicht ertragen, mir den Namen eines anderen zu geben, noch nicht mal den eines Märtyrers. Ich musste es selber tun.«
    Gils Gesicht war ausdruckslos. »Und deine Mutter?«, fragte er. »Wie heißt sie?«
    In der Ferne war das Tuten der Fähre Mangyongbong-92 zu hören.
    Jun Do sagte: »Als ob meine Probleme sich in Luft auflösen würden, wenn sie einen Namen hätten.«
    *
    In dieser Nacht stand Jun Do am dunklen Heck des Fährschiffs und sah hinunter in das wirbelnde Kielwasser. Rumina , dachte er. Er lauschte nicht nach ihrer Stimme und beschwor auch nicht ihr Bild vor seinem inneren Auge herauf. Er
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