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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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Kompaktleuchtstoffbirne verlängern lässt. Doch zuerst eine wunderschöne Überraschung, Bürger: Voller Freude geben wir bekannt, dass Pjöngjang eine neue Opernsängerin hat. Der Geliebte Führer nennt sie die Liebliche Besucherin . Gleich wird sie zu eurer patriotischen Erbauung die Arien aus Meer aus Blut singen. Und so kehrt an eure Drehmaschinen und Vinalon-Webmaschinen zurück, Bürger, und verdoppelt eure Produktionsleistung, während ihr der Lieblichen Besucherin lauscht, die für uns die Geschichte der glorreichsten Nation der Welt besingt, der Demokratischen Volksrepublik Korea!

ERSTER TEIL
    Die Geschichte von Jun Do

JUN DOS MUTTER war Sängerin. Das war das Einzige, was Jun Dos Vater, der Aufseher des Waisenhauses, jemals über sie verriet. In seinem kleinen Zimmer in Frohe Zukunft hatte der Waisenhausaufseher das Foto einer Frau hängen. Sie sah hübsch aus – die großen Augen blickten in die Ferne, die Lippen waren zu einem unausgesprochenen Wort geschürzt. Schöne Frauen aus der Provinz wurden nach Pjöngjang verschleppt, und das war sicher auch mit Jun Dos Mutter geschehen. Der beste Beweis war der Waisenhausaufseher selbst. Abends trank er, und die Waisen in ihren Baracken hörten ihn weinen und schreien und verzweifelte Abmachungen mit der Frau auf dem Foto treffen. Jun Do durfte ihn als einziger trösten und ihm schließlich die Flasche aus der Hand nehmen.
    Als ältester Junge in Frohe Zukunft trug Jun Do viel Verantwortung – die Portionierung des Essens, die Zuteilung der Schlafplätze, die Vergabe von Namen anhand der Liste der 114 Großen Märtyrer der Revolution an die Neuzugänge. Trotzdem war der Waisenhausaufseher sehr darauf bedacht, seinen Sohn, den einzigen Jungen in Frohe Zukunft , der kein Waisenkind war, nicht zu bevorzugen. War der Kaninchenstall verdreckt, dann war es Jun Do, der über Nacht darin eingeschlossen wurde. Machte jemand ins Bett, dann kratzte Jun Do die gefrorene Pisse vom Boden. Jun Do hütete sich, vor den anderen damit zu prahlen, dass er der Sohn des Waisenhausaufsehers war und nicht ein Kind, das von seinen Eltern auf dem Weg ins Lager ausgesetzt worden war. Wenn es jemand unbedingt wissen wollte, war es ja nicht schwer herauszufinden – Jun Do war schon länger da als alle anderen undnur deshalb nicht adoptiert worden, weil sein Vater um nichts in der Welt seinen einzigen Sohn hergegeben hätte. Und es leuchtete ein, dass sein Vater sich einen Posten gesucht hatte, wo er seinen Lebensunterhalt verdienen und sich zugleich um seinen Sohn kümmern konnte, nachdem dessen Mutter nach Pjöngjang entführt worden war.
    Dass die Frau auf dem Foto Jun Dos Mutter sein musste, ließ sich schon daran erkennen, wie unerbittlich immer gerade er bestraft wurde. Das konnte nur bedeuten, dass Jun Dos Gesicht den Waisenhausaufseher Tag für Tag aufs Neue an die Frau auf dem Foto und den Schmerz über ihren Verlust erinnerte. Nur ein solcher Schmerz konnte einen Vater dazu bringen, seinem Kind mitten im Winter die Schuhe wegzunehmen. Nur ein wahrer Blutsverwandter würde seinem Sohn eins mit dem rauchenden Blatt der Kohlenschaufel überziehen.
    Hin und wieder wurde eine Gruppe Zöglinge von einer Fabrik adoptiert, und im Frühjahr kamen Männer mit chinesischem Akzent und suchten sich Jungen aus. Ansonsten durfte jeder die Kinder für einen Tag ausleihen, der den Waisen zu essen gab und dem Aufseher etwas zu trinken. Im Sommer füllten sie Sandsäcke, und im Winter brachen sie mit Metallstangen die Eisplatten von den Docks am Hafen. Für eine Schale kalten Chap Chai schaufelten sie in Fabriken die öligen Eisenspäne auf, die von den Drehmaschinen flogen. Das beste Essen gab es auf dem Güterbahnhof, scharfes Yukejang . Einmal schaufelten die Kinder Güterwaggons leer und wirbelten dabei ein salzartiges Pulver auf. Als sie zu schwitzen begannen, wurden sie rot – erst ihre Hände und Gesichter, dann die Zähne. Der Güterzug hatte Chemikalien für die Farbenfabrik transportiert. Wochenlang blieben sie rot.
    Und dann kamen die Überschwemmungen, im Jahr Juche85. Drei Wochen Regen, doch von weggeschwemmten Reisterrassen, von einstürzenden Erdwällen, von ineinanderfließenden Dörfern war aus den Lautsprechern nichts zu hören. Die Armee war damit beschäftigt, die Sungli-58-Fabrik vor dem Hochwasser zu retten, weshalb den Jungen aus Frohe Zukunft Seile und lange Fischhaken in die Hände gedrückt wurden, mit denen sie die Menschen aus dem Ch'ŏngjin-Fluss ziehen sollten,
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