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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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konnte.
    Es wurde dunkel, rote und blaue Neonlichter glommen an den Ladenzeilen auf, und die Trauerweiden wurden gespenstisch von unten angestrahlt. Autoscheinwerfer blendeten Jun Do. Er fühlte sich ungeschützt und nackt. Wann kam die Sperrstunde? Warum respektierten die Japaner die Dunkelheit nicht, wie jeder normale Mensch?
    Sie standen vor einer Bar und mussten immer noch Zeit totschlagen. Von drinnen klangen Stimmen und Gelächter.
    Gil zog den Yen-Vorrat heraus. »Bringt ja nichts, die wieder mitzubringen«, sagte er.
    An der Bar bestellte er Whiskey. Außer ihnen waren noch zwei Frauen an der Theke, und Gil zahlte auch ihre Getränke. Sie lächelten und wandten sich wieder ihrem Gespräch zu. »Hast du diese Zähne gesehen?«, fragte Gil. »So weiß und perfekt, wie Milchzähne.« Als Jun Do nicht reagierte, sagte Gil: »Entspann dich! Mach dich locker.«
    »Du hast gut reden«, erwiderte Jun Do. »Du musst heute Abend niemanden mehr überwältigen. Und durch die ganze Stadt schaffen. Und wenn wir Offizier So nicht am Strand finden –«
    »So schlimm wäre das ja nun auch wieder nicht«, erwiderte Gil. »Siehst du hier irgendjemanden, der versucht, nach Nordkorea zu fliehen? Hast du schon mal erlebt, dass jemand zu uns kommt, um bei uns Leute vom Strand zu pflücken?«
    »Das bringt doch nichts, dein Gerede.«
    »Na komm, trink«, forderte Gil ihn auf. »Ich schaffe die Sängerin heute Abend in den Sack. Du bist hier nicht der Einzige, der eine Frau zusammenschlagen kann, nur dass du’s weißt. So schwer kann das ja wohl nicht sein.«
    »Ich kümmere mich um die Sängerin«, sagte Jun Do. »Reiß du dich einfach zusammen.«
    »Ich kann eine Sängerin in einen Sack stecken, ist dasklar?«, sagte Gil. »Ich kann einen Einkaufswagen schieben. Hoch das Glas, nach Japan kommst du so schnell nicht wieder.«
    Gil versuchte, mit den Japanerinnen ein Gespräch anzufangen, aber sie lächelten nur, ohne ihn zu beachteten. Dann gab er der Barkellnerin einen aus. Sie kam herüber und unterhielt sich mit ihm, während sie eingoss. Sie hatte knochige Schultern, aber ihr Shirt war eng und ihr Haar tiefschwarz. Sie tranken miteinander, und er sagte etwas, was sie zum Lachen brachte. Als sie sich dem nächsten Gast zuwandte, drehte Gil sich zu Jun Do um. »Wenn du mit einem von diesen Mädchen schläfst«, sagte Gil, »dann weißt du, dass sie es macht, weil sie es will – nicht wie ein Trostmädchen beim Militär, das neun Stempel am Tag für sein Planvorgabebuch zusammenkriegen muss, oder ein Fabrikmädchen, das von seinem Blockwart verheiratet wird. Zu Hause gucken einen die hübschen Mädchen nicht mal mit dem Arsch an. Mit denen kannst du nicht mal eine Tasse Tee trinken, ohne dass ihr Vater gleich die Ehe in die Wege leitet.«
    Hübsche Mädchen ?, dachte Jun Do. »Mein Pech ist, dass alle Welt mich für einen Waisen hält«, sagte Jun Do. »Aber wie ist einer wie du, einer aus Pjöngjang bloß an so einen beschissenen Job geraten?«
    Gil bestellte noch eine Runde Whiskey, auch wenn Jun Do seinen kaum angerührt hatte. »Wir hätten nicht beim Waisenhaus vorbeigehen sollen, das hat dir echt die Laune vermiest«, meinte Gil. »Nur weil ich mich nicht mit den Fingern schnäuze, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht vom Land komme, aus Myohsun bin ich. Du solltest auch was aus dir machen. In Japan kannst du sein, wer du willst.«
    Sie hörten ein Motorrad anhalten und beobachteten durchs Fenster, wie der Fahrer es rückwärts zwischen den anderen einparkte. Er zog den Zündschlüssel ab und versteckte ihn unter dem Tankdeckel. Gil und Jun Do sahen sich an.
    Gil schwenkte das Glas, nippte an seinem Whiskey und gurgelte sacht mit zurückgelegtem Kopf.
    »Du trinkst nicht wie ein Junge vom Land.«
    »Und du trinkst nicht wie ein Waisenknabe.«
    »Ich bin kein Waisenknabe.«
    »Na, dann ist‘s ja gut«, sagte Gil. »Die Waisen in meiner Landmineneinheit haben nämlich alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war – Zigaretten, Socken, Soju. Lauter Diebe. Findest du das nicht auch zum Kotzen, wenn dir jemand deinen Soju wegsäuft? In meiner Einheit haben sie alles gefressen, was sie zu fassen kriegten, wie ein Hund seine Jungen, und womit haben sie es dir gedankt? Mit einem Haufen trockener Köttel.«
    Jun Do setzte das Lächeln auf, mit dem er Leute in Sicherheit wiegte, bevor er zuschlug.
    Gil redete weiter. »Aber du bist ein anständiger Kerl. Du bist so treu wie der Märtyrer. Du brauchst dir nicht ständig
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