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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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wöchentlich Anrecht auf eine der Frauen. In drei Tagen nahm er am Viertelfinale der KVA-Taekwondo-Ausscheidung teil.
    Einmal im Monat wurde jeder Tunnel unter der DMZ gründlich von Jun Dos Einheit überprüft. Dabei arbeiteten sie ohne Licht, was hieß, dass sie kilometerweit durch komplette Finsternis liefen. Ihr Rotlicht setzten sie nur am Tunnelende ein, wo sie die Siegel und Stolperdrähte überprüften. Sie verhielten sich, als könnten sie jeden Augenblick auf Südkoreaner treffen, und abgesehen von der Regenzeit, wenn die Tunnel schlammig und unbenutzbar waren, trainierten sie ihre Handtechniken täglich in völliger Finsternis. Angeblich verfügten die südkoreanischen Soldaten über Infrarotbeleuchtung und amerikanische Nachtsichtbrillen. Die einzige Waffe, über die Jun Dos Jungs verfügten, war die Dunkelheit.
    Als der Wellengang unruhiger wurde und bei Jun Do leichte Panik aufkam, fing er ein Gespräch mit Gil an. »Und was ist das für ein Job, der schlimmer ist als das Entschärfen von Landminen?«
    »Sie zu kartieren«, sagte Gil.
    »Wie, mit einem Räumer?«
    »Metalldetektoren funktionieren nicht«, sagte Gil. »Die Amerikaner haben jetzt Plastikminen. Wir haben Karten erstellt, auf denen wir eingezeichnet haben, wo welche liegen müssten. Dabei orientieren wir uns am Gelände und an der Psychologie. Wo der Wegverlauf oder eine Baumwurzel den Fuß auf eine bestimmte Stelle zwingt, vermuten wir eine Mine und tragen sie ein. Ganze Nächte haben wir im Minenfeld verbracht, mit jedem Schritt unser Leben riskiert, und wofür? Am nächsten Morgen waren die Minen immer noch da, und der Feind auch.«
    Jun Do wusste, wer die schlimmsten Jobs bekam – Tunnelaufklärung, Zwölf-Mann-U-Boote, Minen, Biochemie – und sah Gil auf einmal in einem anderen Licht. »Du bist also Waise«, sagte er.
    Gil wirkte schockiert. »Ganz und gar nicht. Du?«
    »Nein«, erwiderte Jun Do, »ich doch nicht.«
    Jun Dos Einheit bestand aus lauter Waisen, aber in Jun Dos Fall war es ein Versehen. Als Adresse stand auf seiner KVA-Karte Frohe Zukunft , das hatte ihn zu dem Job verdammt. Es war ein bürokratischer Fehler, den scheinbar niemand in ganz Nordkorea beheben konnte, und jetzt war es sein Schicksal. Er hatte sein ganzes Leben unter Waisen verbracht, er kannte ihre Notlage und hasste sie daher nicht wie die meisten anderen Koreaner. Trotzdem war er keiner von ihnen.
    »Und jetzt bist du Dolmetscher?«, fragte Jun Do ihn.
    »Wenn man lange genug in den Minenfeldern gearbeitet hat«, antwortete Gil, »wird man belohnt. Man wird auf einen gemütlichen Posten geschickt, zum Beispiel eine Sprachschule.«
    Offizier So stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus.
    Der weiße Schaum der Brecher wehte jetzt ins Boot.
    »Das Beschissene ist«, sagte Gil, »dass ich jedes Mal, wenn ich die Straße langgehe, denke: Da würde ich eine Landmine hinlegen. Oder ich merke, dass ich bestimmte Stellen meide, ich setze meinen Fuß nicht auf eine Türschwelle oder vor ein Pissoir. Ich kann nicht mal mehr in den Park gehen.«
    »Den Park?«, fragte Jun Do. Er hatte noch nie einen Park gesehen.
    »Das reicht«, unterbrach Offizier So. »Es wird Zeit, dass die Sprachschule einen neuen Japanischlehrer bekommt.« Er würgte den Motor ab, die Brandung wurde laut, und das Skiff schaukelte führerlos in den Wellen.
    Der schemenhafte Mann am Strand beobachtete sie, aber jetzt, zwanzig Meter vom Ufer, konnten sie nichts mehr dagegen tun. Als das Boot beinahe kenterte, sprang Jun Do heraus, um es von außen zu stützen. Das Wasser war zwar nur hüfttief, aber er wurde sofort hart von den Brechern erfasst. Die Brandung schleifte ihn über den Sand, bevor er hustend wieder hochkam.
    Der Mann am Strand sagte nichts. Als Jun Do an Land watete, war es fast dunkel.
    Jun Do atmete tief durch und strich sich das Wasser aus den Haaren.
    » Konban wa «, sagte er zu dem Unbekannten. » Odenki kesu da. «
    » Ogenki desu ka «, rief Gil vom Boot herüber.
    » Desu ka «, wiederholte Jun Do.
    Der Hund kam mit einem gelben Ball im Maul angerannt.
    Einen Augenblick stand der Mann ganz still. Dann wich er einen Schritt zurück.
    »Pack ihn«, brüllte Offizier So.
    Der Mann raste los, und Jun Do verfolgte ihn in seinendurchweichten Jeans und sandverklebten Turnschuhen. Der Hund war groß und weiß und sprang aufgeregt neben ihnen her. Der Japaner rannte schnurstracks den Strand entlang; ohne den Hund, der um ihn herumtollte, wäre er kaum zu sehen gewesen. Jun Do rannte aus
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