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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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bevor sie in den Hafen gespült wurden. Der Fluss war eine dicke Suppe aus Baumstämmen, Öltanks und Latrinenfässern. Ein Traktorreifen drehte sich im Wasser, ein sowjetischer Kühlschrank. Das dumpfe Donnern von Güterwagen war zu hören, die auf dem Flussgrund entlanggerissen wurden. Eine ganze schreiende Familie klammerte sich an die vorbeiwirbelnde Dachplane eines Truppentransporters. Dann reckte eine junge Frau mit tonlos aufgerissenem Mund den Arm aus dem Wasser, und der Waisenjunge Bo Song bekam ihn mit dem Haken zu fassen – sofort wurde er ebenfalls von der Strömung mitgerissen. Bo Song war als schwächliches Kind ins Waisenhaus gekommen, und als sich herausstellte, dass er taub war, gab Jun Do ihm den Namen Un Bo Song. Dieser, der 37. Märtyrer der Revolution, war dafür berühmt, dass er sich die Ohren mit feuchtem Lehm verstopft hatte, damit er beim Angriff auf die Japaner nicht die Kugeln pfeifen hörte.
    Trotzdem schrien die Waisenkinder »Bo Song! Bo Song!« und liefen dort am Ufer entlang, wo sie ihn in den Fluten vermuteten. Sie rannten an den Ausleitungsrohren des Vereinigten Maschinenwerks Ryongsong vorbei, an den schlammigen Erdwällen seiner Laugenbecken, aber Bo Song blieb für immer verschwunden. Am Hafen machten die Jungen Halt. Leichen trieben wie Geronnenes im dunklen Wasser, zu Tausenden wurden sie von den Wellen herumgeworfen wieklebrige Hirseklumpen, die in der heißen Pfanne zu hüpfen anfangen.
    Auch wenn sie es zu dem Zeitpunkt nicht wussten: Das war der Beginn der Hungersnot. Erst gab es keinen Strom mehr, dann keine Züge. Als auch die Fabriksirenen nicht mehr zur Arbeit riefen, wusste Jun Do, dass schwere Zeiten angebrochen waren. Im Winter froren ihnen Finger und Zehen ab, und die Alten erwachten nicht mehr aus dem Schlaf. Und das waren nur die ersten Monate, lange vor den Baumrindenessern. Die Lautsprecher nannten die Hungersnot einen Beschwerlichen Marsch , aber die Stimme kam ja auch aus Pjöngjang. Jun Do hatte das in Ch'ŏngjin noch niemanden sagen hören. Was mit ihnen geschah, brauchte keinen Namen – es war allgegenwärtig, in jedem Fingernagel, den sie abkauten und schluckten, jedem müden Lidschlag, jedem Gang auf die Latrine, wo sie sich mühten, Sägemehlklumpen auszuscheißen. Als auch die letzte Hoffnung verloren war, verfeuerte der Waisenhausaufseher die Betten, und so schliefen die Jungen in der letzten Nacht um einen heiß glühenden Bollerofen auf dem Boden. Am Morgen hielt auf der Straße ein Militärfahrzeug an, eine »Krähe«, wie der Transporter wegen seiner schwarzen Segeltuchabdeckung genannt wurde. Nur noch ein Dutzend Jungen war übrig, sie passten perfekt auf die Ladefläche. Irgendwann endete sowieso jeder Waisenjunge beim Militär. Und so wurde Jun Do mit vierzehn Jahren als Tunnelsoldat in der Kunst des lichtlosen Kampfes ausgebildet.
    Und dort holte Offizier So ihn acht Jahre später ab. Der ältere Offizier kam sogar persönlich unter die Erde, um sich Jun Do anzusehen, der gerade mit seiner Mannschaft von einem Nachteinsatz im Tunnel zurückkehrte. Zehn Kilometer weit verlief der unter der DMZ, bis fast in die Vororte von Seoul. Die Soldaten verließen den Tunnel immer rückwärts,damit ihre Augen sich wieder ans Licht gewöhnen konnten, und so wäre Jun Do fast gegen den Offizier gestoßen. Seine breiten Schultern und sein massiver Brustkorb bezeugten, dass er in der guten alten Zeit großgeworden war, vor der Chollima-Kampagne.
    »Bist du Pak Jun Do?«, fragte er.
    Als Jun Do sich umdrehte, umleuchtete ein Lichtkranz die kurzgeschorenen weißen Haare des Mannes. Sein Gesicht war dunkler als Kopfhaut und Kinn, als habe er gerade erst seinen Bart und eine dichte, wilde Mähne abgeschoren. »Der bin ich«, antwortete Jun Do.
    »Das ist der Name eines Märtyrers«, sagte Offizier So. »Ist das hier ein Waisentrupp?«
    Jun Do nickte. »Ja. Aber ich bin kein Waise.«
    Der Blick des Offiziers fiel auf das rote Taekwondo-Abzeichen auf Jun Dos Brust.
    »Na schön«, sagte Offizier So und warf ihm einen Sack zu.
    Darin waren Jeans, ein gelbes T-Shirt mit einem aufgestickten Polo-Pony und Turnschuhe. Die wurden Nikes genannt – Jun Do erkannte sie von ganz früher, als das Waisenhaus noch als Begrüßungskomitee für ganze Bootsladungen von Koreanern angetreten war, die man mit Versprechungen von Parteiposten und Wohnungen in Pjöngjang aus Japan in die alte Heimat zurückgelockt hatte. Die Waisen schwenkten Willkommensfähnchen und sangen
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