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Trinken hilft

Trinken hilft

Titel: Trinken hilft
Autoren: Maxi Buhl
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TRINKEN HILFT FÜR ANFÄNGER

    D er November macht Versager seekrank. Von Sinnkrisen gebeutelt kauern wir Stubenhocker, Grübler, Kaffeejunkies, Nörgler – kurz, Nerds wie ich – in unserer Ecke, starren durch beschlagene Fensterscheiben in das tosende Wetter hinaus und erwarten jeden Augenblick die Klimakatastrophe, den Börsengang der Regierung und die Abschaffung des Wohngeldzuschusses.
    Es ist der Monat des absoluten Durchhängers. Ein Kinobesuch kann da Wunder bewirken. Komödien bringen einen auf andere Gedanken, Tragödien auch, behaupte ich. Gerade die. Zwei Stunden mitzufiebern, wenn auf der Leinwand das Schicksal zuschlägt, relativiert die eigene Fallhöhe und entlässt uns in einen blutarmen Alltag ohne Verfolgung, Verrat und Vertreibung.
    Ein Kinobesuch hat mein Leben verändert. Aber das wusste ich damals noch nicht, als ich unterwegs in die Spätvorstellung war, um diesem öden Buß- und Bettag noch irgendein Highlight abzutrotzen. Meine Brille war vom Regen beschlagen, ich walzte halb blind durch eine Wand aus Wasser und rempelte mit einem Passanten zusammen, der dem Spritzwasser vorbeizischender Autos ausweichen wollte und mir dabei in die Arme stürzte.
    »Können Sie nicht aufpassen!«, schimpfte ich, und dann erkannte ich ihn. »Harald, bist du nicht Harald? Ich muss mir die Brille putzen, warte …!«
    Harald zog mich in einen Hauseingang und wischte sich das tropfende Gesicht ab. Er sah abgespannt aus. Massiv gealtert. Waren wir nicht derselbe Jahrgang? Sah ich etwa genauso …? Wir hatten uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Neun Jahre oder schon zehn, bestimmt. Früher saßen wir uns regelmäßig in der Mensa gegenüber, manchmal trafen wir uns in der einen oder anderen Studentenkneipe, und dann begann irgendwann der Ernst des Lebens und wir verloren uns aus den Augen.
    »Komm doch mit in Das Leben der Anderen «, schlug ich vor.
    »Da komme ich gerade her«, lachte er mehr sarkastisch als fröhlich und deutete auf ein Bürohaus hinter sich.
    »Du kennst den Film also schon?«
    »Und ob! Ich erlebe ihn täglich selbst – im Büro. Dort hocke ich zwölf Stunden oder auch länger bei künstlichem Licht vor meinem Mac, lasse Zahlen, Zahlen und noch einmal Zahlen über den Bildschirm purzeln, die ich zu Statistiken, Wertschöpfungsberichten und Gutachten auswerte, um das Leben der Anderen auf die gewinnträchtigste Außenkurve zu manövrieren, um den Anderen einen Logenplatz auf der Sonnenseite des Lebens zu ermöglichen«, sprudelte es aus ihm hervor, als hätte er schon lange nicht mehr von seiner Stimme Gebrauch gemacht. Er atmete hörbar durch und setzte resigniert nach: »Mein eigenes Leben …? Keine Ahnung, wo das geblieben ist. Irgendwo im Business. Vielleicht stolpere ich in dreißig Jahren darüber, falls ich die Rente noch erlebe. Ob ich es dann aber wiedererkenne, mein Leben? Was soll’s. So ist das nun mal.«
    Armer Hund. Er mühte sich die Karriereleiter hoch als Analyst in einer bedeutenden Holding, er hatte eben erst das Betriebsgebäude verlassen.
    »So spät hörst du auf?«, fragte ich mitfühlend.
    »Selten«, sagte er und zuckte die Schultern. »Meistens wird es noch später. Eigentlich lohnt es sich kaum mehr, nach Hause zu gehen. Aber der Briefkasten muss geleert werden.«
    »Wie hältst du das aus?«
    Wieder zuckte er mit den Schultern. »Verdrängen, glaube ich, sagt man dazu.«
    »Und das gelingt dir?«
    »Ach weißt du …«, er zögerte kurz, dann huschte ein Lächeln über seine Züge, »ich habe einen gut sortierten Weinkeller. Trinken hilft.«
    Trinken hilft. So eindeutig hatte es noch keiner gesagt.
    An diesem Abend hätte ich mir den Film sparen können. Ich war nicht bei der Sache. Meine Gedanken hatten sich an dieser knappen Botschaft festgebissen: Trinken hilft . Ich eilte vom Kino nach Hause, in die Küche, zum Weinregal, auf dem zwei angestaubte Flaschen Rödelseer Domina vor sich hin reiften, so als hätten sie auf diesen Moment der Erleuchtung gewartet, der mit einem Schlag all meine medizinischen Vorbehalte zum Thema Trinken entkräftete.
    Meine Frau war längst im Bett. Sie musste am nächsten Tag zu einem Vorstellungsgespräch, sie wollte fit sein, um einen guten Eindruck zu erwecken. Offensichtlich hatte sie mich gehört, als ich mit dem Korken kämpfte, und nun spitzte sie verschlafen durch die Küchentür.
    »Es ist spät, Schatz. Willst du nicht lieber schlafen?«
    »Nein. Ich trink lieber.«
    »Einfach so, allein? Was ist denn
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