Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis von Vennhues

Das Geheimnis von Vennhues

Titel: Das Geheimnis von Vennhues
Autoren: Holtkoetter Stefan
Vom Netzwerk:
Herbst 1982
 
 
    Der Singsang ihrer Stimmen drang durch den dichter werdenden Nebel im Moor ✎ Die Heitmann-Brüder standen gut zwanzig Meter entfernt auf sicherem Boden.
    »Wetten, dass du dich nicht tra-aust! Wetten, dass du dich nicht tra-aust!«
    Er wagte es nicht, zu ihnen hinüberzusehen. Auf einem der feuchten Grasbüschel kämpfte er um sein Gleichgewicht. Noch deutlicher als die Brüder hörte er seinen eigenen Atem. Die Hände an seinen ausgestreckten Armen zitterten, und er blickte angsterfüllt auf das schwarze Sumpfwasser, das zwischen den Büscheln hindurchschimmerte.
    Erst nach dieser Mutprobe würde er zur Clique der Heitmann-Brüder gehören. Er musste über die Büschel zur anderen Seite gelangen. Alle anderen hatten es schon gemacht, es war also nichts dabei. Trotzdem bewegte er sich keinen
    Zentimeter.
    »Frank ist ein Mädchen!«, johlten sie. »Frank ist ein Mädchen!«
    »Das traut der sich nie!«, rief einer der beiden hinterher.
    Sir Alex war auch ins Moor gefallen, und als ihm der Schlamm schon bis zum Hals stand, da war sein treues Pferd gekommen, um ihn herauszuziehen. Doch er war nun einmal kein Ritter wie Sir Alex, und ein Pferd hatte er auch nicht. Er wünschte sich weit weg von hier.
    »Ich trau mich wohl«, sagte er trotzig und zwang sich zum nächsten Schritt.
    Das feuchte Grasbüschel schien stabil genug, um ihn zu tragen. Er musste nur aufpassen, dass er nicht ausrutschte oder danebentrat. Er verlagerte sein Gewicht, dann zog er das Standbein hinterher. Der torfige Untergrund sackte ein wenig ab, er hörte ein leises Gurgeln, und Luftbläschen stiegen neben ihm auf. Alles war in Ordnung.
    Irgendwo im Nebel bellte ein Hund. Die Brüder verstummten und blickten sich um. Das Bellen näherte sich, und dann drang eine heisere Stimme durch die milchige Wand.
    »Klaus! Martin! Seid ihr das? Seid ihr etwa ins Moor gegangen?«
    Es war Franz Heitmann, ihr Vater. Wenn er sie hier fände, dann gäbe es Prügel, das wussten sie genau.
    Die Heitmann-Brüder blickten einander an. Sie zögerten nicht lange.
    »Komm, schnell weg hier!«
    Sie achteten nicht weiter auf ihren Spielkameraden und liefen über den Pfad davon. Nach wenigen Metern waren sie im Nebel verschwunden. Der Hund bellte wieder, und es ertönte das Schimpfen ihres Vaters.
    Dann wurde es still.
    Frank stand wie erstarrt da. Mit weit aufgerissenen Augen lauschte er in das ruhige Moor hinein. Um ihn herum waren nur noch die Grasbüschel und der trügerische Boden darunter. Etwas entfernt stand eine verkrüppelte Schwarzerle, die ihre kargen Äste in die Luft streckte.
    »Onkel Franz?« Es war kaum mehr als ein Wispern.
    Er holte Luft und rief so laut er konnte. »Onkel Franz!«
    Doch nichts geschah.
    Am liebsten wäre er losgerannt, doch das durfte er nicht. Hektisch trat er auf das nächste Büschel. Das feuchte Gras rutschte unter der Sohle auseinander, und sein Schuh stekkte bis zum Knöchel im Schlamm. Mit einem hellen Schrei ruderte er zurück. Doch als der Boden ihn mit einem Schmatzen freigab, kam er aus dem Gleichgewicht. Er rutschte über das feuchte Gras und fiel der Länge nach in das schwarze Wasser.
    Die nasse Kleidung zog ihn sofort nach unten. Panisch strampelte er herum und schnappte nach Luft. Das Wasser war nicht tief, er suchte instinktiv nach Halt, sackte jedoch in den schlammigen Grund. Endlich bekam er etwas zu fassen und klammerte sich sofort daran fest. Als er bemerkte, was er dort im Arm hielt, war es bereits zu spät. Der Kopf eines Menschen tauchte vor ihm aus dem Sumpf auf und starrte ihn aus toten Augen an.
    Schreiend stieß der Junge die Leiche von sich. Er verhakte sich im nassen Stoff ihrer Kleidung, und strampelte mit allen Vieren. Als er sich endlich befreit hatte, warf er sich zur Seite, paddelte zu einem Grasbüschel und warf sich quer darüber.
    Dann schrie er und schrie und schrie.

1
    Erst nachdem die Dunkelheit über das Grenzgebiet hereingebrochen und außer den schwachen Lichtern hinter den Fenstern entlegener Höfe nichts mehr zu erkennen war, warf er seinen Seesack über die Schulter und machte sich auf den Weg. Auf deutscher Seite, nur wenige Kilometer vom Grenzpfahl entfernt, war das Ziel seiner Reise: die kleine Ortschaft Vennhues, die er vor langer Zeit einmal seine Heimat genannt hatte. Er wählte den Weg durch die Birkenwälder, der ihn am Ort vorbeiführte. In Vennhues fielen Fremde auf, ganz gleich, wie unauffällig sie sich benahmen. Irgendwo würde ein Hund bellen und kurz
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher