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Das Geheimnis von Vennhues

Das Geheimnis von Vennhues

Titel: Das Geheimnis von Vennhues
Autoren: Holtkoetter Stefan
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darauf ein Vorhang beiseite gezogen werden. Oder ein Bauer spähte die Straße hinunter, nachdem er einen letzten Gang durch seine Stallungen gemacht hatte.
    Gleich hinter der Grenze gab es ein Traktoren-Werk, damals ein kleiner Familienbetrieb, neben dessen maroden Hallen die Kinder Schnecken und Frösche gesammelt hatten. Heute erstreckte sich das Werk über eine endlose Kette kastenförmiger Gebäude, umgeben von einem riesigen, mit Flutlicht ausgestrahlten Areal, auf dem die neuen Traktoren standen. Nichts erinnerte mehr an früher. Als er an dem hohen Werkszaun entlanglief, suchte er vergeblich nach einem vertrauten Bild und fragte sich plötzlich, ob er vielleicht den falschen Übergang genommen und weit entfernt von Vennhues deutschen Boden betreten hatte.
    Endlich tauchte das Dorf vor ihm auf. Verändert, fremd, und trotzdem raubte ihm der Anblick den Atem.
    Helle Bilder stiegen auf und schlugen über ihm zusammen.
    Vennhues war gewachsen. Im schwachen Mondlicht erstreckte sich ein Neubaugebiet neben dem Dorfkern. Die Alleebäume waren gefällt, und der ehemals gewundene Weg war zu einer geraden Schnellstraße geworden, die sich in die angrenzenden Felder fraß.
    Doch manches war geblieben: der barocke Turm der Klosterkirche und die schiefen Giebel der Dorfbauernhöfe. Die Anordnung dieser Häuser ergab im Mondlicht den gleichen Schattenriss wie vor über zwanzig Jahren, als er an derselben Stelle gestanden und das letzte Mal zurückgeblickt hatte.
    Eilig wandte er sich ab und ging weiter. Er hatte gelernt, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wer unsentimental ist und den Überblick behält, dachte er, dem kann so leicht nichts zustoßen. Sein kühler Kopf hatte ihm im Laufe der Jahre so manchen Dienst geleistet, und gerade in den kommenden Tagen würde er ihn dringender brauchen denn je.
    Ein herannahendes Auto durchschnitt die nächtliche Stille an der Schnellstraße. Die Scheinwerfer konnten ihn jedoch nicht erfassen, da er bereits querfeldein über den Acker gegangen war. Die Scheiben waren heruntergekurbelt, und Jugendliche johlten in die Nacht hinaus. Kurz darauf war das Auto verschwunden. Es dauerte nun nicht mehr lange, bis der Hof seines Vaters hinter einer Böschung auftauchte. Der Hof von Werner Bodenstein.
    Wieder warf ihm die Erinnerung tausend helle Bilder in den Kopf, doch dieses Mal schob er sie nüchtern zur Seite. Wenn er nicht willkommen war, würde er es hinnehmen. In diesem Fall würde er sich einfach umdrehen und über die Grenze zurück nach Enschede gehen. Er kannte ein Gasthaus, das ihn so spät noch aufnehmen würde, und morgen früh wäre alles wieder vergessen.
    Sein Vater war vorbereitet. Er hatte seine Ankunft auf einer Postkarte angekündigt, die vor zwei Tagen in Vennhues angekommen sein musste. Werner Bodenstein hatte also genügend Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie er seinen verlorenen Sohn Peter empfangen wollte.
    Die Fenster der großen Diele waren erleuchtet. Peter Bodenstein verließ den Acker und klopfte sich den schweren Lehm von den Füßen. Dann lief er über den Hof auf das Wohnhaus zu. Einen Moment lang überlegte er, ob er über die Tenne und durch die Waschküche ins Haus gehen sollte, so wie er es früher stets getan hatte. Doch dann entschloss er sich, an der Haustür zu läuten. Er war nun ein Gast und wollte sich auch so verhalten.
    Es dauerte, bis der Riegel betätigt wurde und die Eichentür sich quietschend öffnete. Sein Vater stand vor ihm. Ganz plötzlich. Vertraut, als wäre kein einziger Tag vergangen. Mit seiner gewaltigen Statur füllte er den Türrahmen aus, und sein ruhiger Blick traf seine Augen. Da wusste er, dass er willkommen war. Der Blick seines Vaters reichte aus, um ihm jeden Zweifel zu nehmen.
    Werner Bodenstein blieb in der offenen Tür stehen. Er war wie erstarrt, lediglich seine Hand rieb beinahe unmerklich über den Türknauf.
    »Mein Junge.« Mehr sagte er nicht.
    Er ging nicht auf ihn zu, umarmte ihn nicht. Doch Berührungen hatte es schon damals zwischen ihnen nicht gegeben. Sie waren auch nicht notwendig, denn Peter Bodenstein wusste auch so, wie sehr sich sein Vater freute.
    »Komm herein, Peter. Hier drinnen ist es warm.«
    Mit einem Ruck nahm er den Seesack von der Schulter und folgte seinem Vater in die Diele des Bauernhauses.
    Alt ist er geworden, ging es ihm durch den Kopf. Ziemlich alt sogar.
    Das kräftige Haar war schlohweiß, die Haut schien grau und voller Flecken. Auch seine Bewegungen waren langsamer geworden.
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