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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
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sich genommen, um einem besonders üblen, rachsüchtigen Schurken den Eindruck zu vermitteln, dass er, Holmes, nicht mehr lange zu leben hätte und dem Tod nahe sei. Die List hatte ihren Zweck auf triumphale Weise erfüllt, und der besagte Verbrecher befand sich jetzt in den fähigen Händen von Inspektor Morton von Scotland Yard. Dennoch war ich in Sorge wegen der großen gesundheitlichen Belastung, die Holmes auf sich genommen hatte, und hielt es für angezeigt, ihn im Auge zu behalten, bis sein Stoffwechsel ganz wiederhergestellt war.
    Ich war deshalb außerordentlich glücklich, als ich ihn dabei beobachtete, wie er sich einen großen Teller Scones mit Veilchenhonig und Sahne sowie ein Stück Rührkuchen und heißen Tee einverleibte, die uns Mrs. Hudson serviert hatte. Holmes war offensichtlich auf dem Weg der Besserung, er lag gemütlich in seinem großen Ledersessel, die Füße ausgestreckt vor dem Kamin und bekleidet mit seinem Morgenrock. Er war schon immer von ausgeprägt schlanker Statur, ja beinahe ausgemergelt gewesen, und seine scharfen Augen schienen durch die Adlernase noch schärfer zu werden, aber zumindest war jetzt schonetwas Farbe in seinem Gesicht, und seine Stimme und seine Haltung zeigten, dass er in jeder Hinsicht fast wieder der Alte war.
    Er hatte mich herzlich begrüßt, und als ich ihm jetzt gegenübersaß, hatte ich das eigenartige Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen. Es war, als hätte es die letzten zwei Jahre nie gegeben, als hätte ich meine geliebte Mary weder kennengelernt noch geheiratet und wäre auch nicht in das Haus in Kensington eingezogen, das ich durch den Verkauf der Agra-Perlen hatte erwerben können. Es schien, als wäre ich noch immer der Junggeselle, der hier bei Holmes gewohnt und regelmäßig den Nervenkitzel einer Verbrecherjagd und die allmähliche Entwirrung eines neuerlichen Geheimnisses mit ihm geteilt hatte.
    Ich hatte den Eindruck, dass es ihm auch ganz recht war. Holmes sprach selten über die neue Häuslichkeit, die ich mir geschaffen hatte. Zum Zeitpunkt meiner Eheschließung war er verreist gewesen, und ich hatte mich schon damals gefragt, ob das wohl nur Zufall war. Es war nicht so, dass meine Ehe ein gänzlich verbotenes Thema zwischen uns war, aber es gab doch eine Art stillschweigende Übereinkunft, die Gespräche darüber nicht allzu sehr in die Länge zu ziehen. Mein Glück und meine Zufriedenheit blieben Holmes nicht verborgen, und er war großzügig genug, sie mir nicht zu missgönnen. Als ich eingetroffen war, hatte er sich nach Mrs. Watson erkundigt, aber keine weiteren Informationen erbeten, und ich hatte auch keine gegeben. Das alles machte seine zielsichere Bemerkung noch rätselhafter.
    »Sie schauen mich an, als ob ich ein Hellseher wäre«, sagte Holmes lachend. »Ich nehme an, Sie haben die Werke von Edgar Allen Poe nicht zur Gänze gelesen?«
    »Sie sprechen von seinem Detektiv, Auguste Dupin?«
    »Er benutzte eine Methode, die er Ratiocination – Schlussfolgern – nannte. Seiner Ansicht nach war es möglich, die innersten Gedanken eines Menschen zu lesen, ohne dass er auch nur den Mund öffnen muss. Es konnte alles durch einfache Analyse seines Verhaltens erschlossen werden, das Zucken einer Augenbraue zum Beispiel. Die Idee beeindruckte mich damals sehr, aber ich glaube mich zu entsinnen, dass Sie eher skeptisch waren.«
    »Und dafür muss ich jetzt sicher büßen«, bestätigte ich. »Aber wollen Sie mir wirklich weismachen, dass Sie auf Grund meines Benehmens beim Verzehr von Teegebäck auf die Krankheit eines Kindes schließen konnten, das Sie nicht einmal kennen?«
    »Das und noch einiges andere«, erwiderte Holmes. »Ich konnte feststellen, dass Sie gerade vom Holborn Viaduct kommen. Sie haben Ihr Haus zwar in großer Eile verlassen, den Zug aber letzten Endes dann doch verpasst. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Sie derzeit kein Hausmädchen haben.«
    »Nein, Holmes!«, rief ich. »Das kann ich mir nicht bieten lassen!«
    »Hab ich denn unrecht?«
    »Nein, was Sie sagen, stimmt hundertprozentig. Aber wie ist das möglich …?«
    »Alles eine Frage der Beobachtung und der entsprechenden Schlussfolgerungen. Wenn ich es Ihnen erläutern würde, erschiene alles geradezu kindisch einfach.«
    »Und doch muss ich darauf bestehen, dass Sie genau das tun.«
    »Nun denn, da Sie so freundlich waren, mir diesen Besuch abzustatten, muss ich mich wohl revanchieren«, erwiderte Holmes mit einem unterdrückten Gähnen. »Lassen Sie uns mit
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