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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
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eingeladen hat, bei seinem Gedenkgottesdienst in der Westminster Abbey zu sprechen – eine Einladung, die ich respektvoll abgelehnt habe. Holmes hat über meinen Prosastil oft gespottet, und ich hätte befürchten müssen, dass er mir, wenn ich tatsächlich auf die Kanzel gestiegen wäre, die ganze Zeit über die Schulter geschaut und über alles, was ich gesagt hätte, von jenseits des Grabes mit sanftem Spott gelacht hätte.
    Er war immer der Ansicht, ich würde seine Fähigkeiten und die außergewöhnlichen Erkenntnisse seines brillanten Gehirns überschätzen. Er lächelte darüber, dass ich meine Erzählungen so konstruierte, als würde sich am Ende plötzlich alles auflösen, während es doch in Wirklichkeit von Anfang an offenbar gewesen sei. Mehr als einmal beschuldigte er mich eines trivialen Hangs zur Romantisierung und sagte, ich sei nicht besser als irgendein Schreiberling aus der Grub Street. Ich glaube, dassdieser Vorwurf insgesamt nicht gerechtfertigt war. In all den Jahren, in denen ich ihn gekannt habe, habe ich ihn nie auch nur mit einem einzigen belletristischen Werk gesehen – außer der allertrivialsten Schundliteratur; und obwohl ich keinerlei Anspruch auf literarische Fähigkeiten erhebe, wage ich doch zu behaupten, dass meine Erzählungen ihre Aufgabe einigermaßen erfüllt haben und er selbst seine Abenteuer nicht besser zu schildern gewusst hätte. Holmes hat das sogar zugegeben, als er eines Tages selbst zu Papier und Feder griff, um den merkwürdigen Fall Godfrey Emsworth in seinen eigenen Worten zu schildern. Diese Episode wurde schließlich als Der gebleichte Soldat vorgestellt, ein Titel, den ich alles andere als perfekt finde, denn bleichen würde ich allenfalls eine Mandel.
    Ich habe, wie ich schon sagte, eine gewisse Anerkennung für meine literarischen Bemühungen erfahren, aber eigentlich ging es mir darum gar nicht. Aufgrund der verschiedenen schicksalhaften Wendungen, die ich oben beschrieben habe, bin ich auserwählt worden, die Leistungen des besten beratenden Detektivs der Welt ans Licht zu bringen, und habe einem begeisterten Publikum nicht weniger als sechzig Abenteuer vorstellen dürfen. Die lange Freundschaft mit diesem Mann aber war für mich persönlich viel wertvoller.
    Es ist jetzt ein Jahr her, dass man ihn leblos und still in seinem Haus in den Downs fand, wo sein gewaltiger Verstand für immer zur Ruhe gekommen ist. Als ich die Nachricht erhielt, wurde mir sofort klar, dass ich nicht nur meinen engsten Freund und Gefährten verloren hatte, sondern in mancher Hinsicht auch meine ganze Daseinsberechtigung. Zwei Ehen, drei Kinder und sieben Enkel, eine erfolgreiche medizinische Karriere und der Verdienstorden, den mir Seine Majestät König Edward VII. im Jahre 1908 verliehen hat, mögen von manchen als beträchtliche Lebensleistung erachtet werden. Mir war dasnie genug. Ich vermisse Holmes bis zum heutigen Tage, und oft genug bilde ich mir in meinen Tagträumen ein, noch einmal die vertrauten Worte zu hören: ›Das Wild ist auf, Watson!‹ Aber sie erinnern mich natürlich nur daran, dass ich nie wieder mit meinem treuen Dienstrevolver in der Faust in die neblige Düsternis der Baker Street tauchen werde. Ich denke oft an Holmes, der auf der anderen Seite jenes großen Schattens auf mich wartet, der uns alle irgendwann überfällt, und ich sehne mich sogar danach, wieder an seiner Seite zu stehen. Ich bin allein. Meine alte Verletzung wird mich bis zum Ende quälen, und während in Europa ein sinnloser Krieg wütet, spüre ich, dass ich die Welt, in der ich lebe, nicht länger verstehe.
    Warum also greife ich erneut zur Feder, ein letztes Mal, um Erinnerungen zu wecken, die vielleicht besser vergessen wären? Vielleicht bin ich selbstsüchtig. Vielleicht ist es so wie bei vielen anderen Männern, die ihr Leben längst hinter sich haben, und ich suche eine Art Trost. Die Krankenschwestern, die mich pflegen, versichern mir, dass Schreiben der Therapie nützt und verhindern wird, dass ich in jene schwarzen Stimmungen verfalle, die mich gelegentlich heimsuchen. Aber es gibt auch noch einen anderen Grund.
    Die Abenteuer um den Mann mit der flachen Mütze und das House of Silk waren in vieler Hinsicht die sensationellsten in der Karriere von Sherlock Holmes, aber seinerzeit war es unmöglich, sie zu erzählen. Warum das so ist, wird sehr bald klar werden. Sie waren eng miteinander verknüpft und ließen sich deshalb nicht trennen. Dennoch habe ich mir immer gewünscht,
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