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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
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Carstairs wurde unter ihrem Mädchennamen vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen und zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Sie hatte großes Glück, dass sie der Schlinge des Henkers entkam. Lord Ravenshaw hat sich in seinem Arbeitszimmer mit dem Revolver das Hirn weggeschossen. Vielleicht gab es auch noch ein oder zwei andere Selbstmorde, aber sowohl Dr. Thomas Ackland als auch Lord Horace Blackwater sind der Justiz entgangen. Ich nehme an, man muss das pragmatisch sehen,aber es ärgert mich doch, schon allein aufgrund dessen, was sie Sherlock Holmes angetan haben.
    Bleibt schließlich jener geheimnisvolle Gentleman, der mich entführen ließ und auf seinem Schloss mit mir speisen wollte. Ich habe Holmes nie von ihm erzählt, und auch sonst keinem Menschen. Bis zum heutigen Tag hab ich ihn niemals erwähnt. Manch einer findet das vielleicht merkwürdig, aber ich hatte nun einmal mein Wort gegeben, und obwohl er sich selbst als Kriminellen bezeichnet hatte, fühlte ich mich als Gentleman daran gebunden. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass es sich um niemand anderen als Professor James Moriarty gehandelt hat, der wenig später eine ausgesprochen wichtige Rolle in unserem Leben spielen sollte. Kurz bevor wir zu den Reichenbachfällen aufbrachen, redete Holmes sehr viel über ihn, und ich hatte wirklich große Mühe, so zu tun, als ob ich ihn nie getroffen hätte, denn ich war damals schon der Überzeugung, dass es sich um dieselbe Person handeln musste. Ich habe oft über den zwiespältigen Charakter dieses Mannes nachgedacht. Holmes sprach voll Entsetzen über seine Bösartigkeit und die Unzahl von Verbrechen, in die Moriarty verwickelt war. Aber er schien auch seine Intelligenz zu bewundern und sogar seinen Sinn für Fairplay. Bis zum heutigen Tag glaube ich, dass Moriarty meinem Freund damals wirklich helfen und dazu beitragen wollte, dass das House of Silk für immer geschlossen wurde. Als Meisterverbrecher wusste er natürlich, dass es existierte, aber es lag ihm wohl nicht, selbst etwas zu unternehmen. Andererseits missbilligte er es so sehr, dass er Holmes das weiße Band schickte, um ihn auf die Vorgänge aufmerksam zu machen, und mir den Schlüssel gab, um ihn zu befreien. Er hoffte wohl, dass sein Widersacher das scheußliche Etablissement beseitigen würde, und so ist es ja auch gekommen. Soviel ich weiß, hat sich Moriarty aber nie für diesen Einsatz bei Holmes bedankt.
    Über Weihnachten und Neujahr 1891 habe ich Holmes nicht gesehen, denn ich war zu Hause bei meiner Frau, deren schlechter Gesundheitszustand mich schrecklich beunruhigte. Im Januar allerdings verließ sie London erneut, um sich bei Freunden auf dem Land zu erholen, und auf ihren Vorschlag hin kehrte ich in mein altes Zimmer in der Baker Street zurück, um zu sehen, wie Holmes unser Abenteuer verkraftet hatte. In diese Zeit fällt ein Zwischenfall, den ich noch erwähnen und aufzeichnen muss.
    Holmes war in jeder Beziehung entlastet worden; alle Anklagepunkte gegen ihn wurden fallengelassen. Dennoch war er keineswegs guten Mutes. Er war nervös und reizbar, und auch ohne seine Fähigkeiten der Deduktion wusste ich seine sehnsüchtigen Blicke auf das Marokkoleder-Etui auf dem Kaminsims richtig zu deuten. Ihn quälte die Versuchung, sich das flüssige Kokain zu spritzen, das sein bedauerlichstes Laster gewesen ist. Es wäre gut gewesen, wenn er einen neuen Fall gehabt hätte, aber es gab keinen, und ich hatte früher schon bemerkt, dass er zu Antriebslosigkeit und Depressionen neigte, wenn ihn kein scheinbar unlösbares Rätsel in seinen Bann schlug und seine Energien herausforderte. Aber diesmal gab es offensichtlich noch etwas anderes, das ihn quälte. Er hatte das House of Silk oder irgendetwas, das damit in Zusammenhang stand, nicht mehr erwähnt, aber eines Morgens lenkte er meine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Zeitungsbericht, in dem mitgeteilt wurde, die Chorley Grange School for Boys sei geschlossen worden.
    »Das reicht nicht«, murmelte er. Er zerknüllte die Zeitung mit beiden Händen, warf sie beiseite und sagte: »Der arme Ross!«
    Daraus, und aus anderen Hinweisen in seinem Verhalten – so erwähnte er zum Beispiel, dass er die Dienste der Irregulären der Baker Street wahrscheinlich nie mehr beanspruchen werde –, zog ich den Schluss, dass er sich noch immer die Schuld am Tod des Jungen gab und dass die Szenen, die wir an jenem Abend am Hamworth Hill gesehen hatten, einen unauslöschlichen, schmerzlichen
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