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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
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Ihr Bericht war in dieser Hinsicht recht aufschlussreich, Mr. Carstairs, unddafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Sie haben uns erzählt, dass Rourke und Keelan O’Donaghue Zwillinge waren, dass Keelan aber der kleinere von beiden gewesen ist. Sie hatten sich sogar die Initialen des jeweils anderen auf den Oberarm tätowieren lassen, weil sie sich so nahestanden. Keelan war schweigsam und glatt rasiert. Er trug eine flache Mütze, die verhinderte, dass man viel von seinem Gesicht sah. Wir wissen, dass er zierlich und schlank war. Nur er war in der Lage, sich durch das Rohr zu zwängen, das zum Fluss führte. Nur er konnte auf diese Weise entkommen. Es gab aber noch ein anderes Detail in Ihrem Bericht, das mich sehr verblüfft hat. Die ganze Bande wohnte zusammen in einem Raum in diesem Elendsviertel im North End – bis auf Keelan. Der hatte sein eigenes Zimmer, ein beträchtlicher Luxus. Ich habe mich von Anfang an gefragt, was das zu bedeuten hatte.
    Die Antwort ist angesichts der übrigen Hinweise, die ich gerade aufgezählt habe, eigentlich ganz offensichtlich, und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich inzwischen auch die Bestätigung von Mrs. Caitlin O’Donaghue persönlich habe, die immer noch in der Sackville Street in Belfast wohnt, wo sie eine Wäscherei hat. Sie hat mir bestätigt, dass sie im Frühjahr 1865 tatsächlich von Zwillingen entbunden wurde, aber nicht von zwei Brüdern. Die Zwillinge waren vielmehr Bruder und Schwester. Das heißt, Keelan O’Donaghue war ein Mädchen.«
    Das Schweigen, das dieser Enthüllung folgte, war, mit einem Wort: abgrundtief. Der stille Wintertag drückte gegen die Scheiben, und sogar das vordem so fröhlich flackernde Feuer schien plötzlich die Luft anzuhalten.
    »Ein Mädchen?« Carstairs schaute Holmes staunend und hilflos an. Ein weinerliches Lächeln spielte um seinen Mund. »Ein Mädchen, das eine Bande anführt?«
    »Um in einer solchen Umgebung zu überleben, musstesie natürlich geheim halten, dass sie ein Mädchen war«, sagte Holmes. »Außerdem war es ihr Bruder Rourke, der die Bande anführte. Nein, Mr. Carstairs, alle Indizien lassen nur einen einzigen Schluss zu, es gibt keine Alternative.«
    »Und wo ist dieses Mädchen jetzt?«
    »Das ist sehr einfach, Mr. Carstairs. Sie sind mit ihr verheiratet.«
    Ich sah, wie Catherine Carstairs totenblass wurde, aber sie sagte nichts. Ihr Mann dagegen erstarrte. Die beiden erinnerten mich an die Wachsfiguren bei Madame Tussaud.
    »Sie leugnen es nicht, Mrs. Carstairs?«, fragte Holmes.
    »Natürlich bestreite ich das! Ich habe noch nie so etwas Absurdes gehört.« Sie wandte sich an ihren Mann, und plötzlich standen Tränen in ihren Augen. »Du wirst doch nicht zulassen, dass dieser Mann so mit mir spricht, Edmund? Zu behaupten, dass ich mit einer hassenswerten Bande von Kriminellen zu tun habe!«
    »Ich fürchte, Ihre Worte stoßen auf taube Ohren, Mrs. Carstairs«, stellte Holmes fest.
    Und das war zutreffend. Von der Sekunde an, wo Holmes seine verblüffende Feststellung getroffen hatte, war Carstairs erstarrt. Seine Augen glotzten unbeweglich geradeaus und zeigten ein tiefes Entsetzen, was mich vermuten ließ, dass er die Wahrheit tief im Innern schon immer geahnt hatte, auch wenn er jetzt erst gezwungen war, ihr direkt ins Auge zu sehen.
    »Bitte, Edmund …« Sie streckte die Hand aus, aber Carstairs zuckte zurück und wandte sich ab.
    »Darf ich fortfahren?«, fragte Holmes.
    Catherine Carstairs schien etwas sagen zu wollen, fiel dann aber wieder zurück. Ihre Schultern sanken zusammen, und es schien, als wäre ihr ein seidener Schleier vom Gesicht gezogen worden. Plötzlich sah sie uns mit einem harten, flammenden Blick voller Hass an. Zu einer englischen Lady passte ein solcher Gesichtsausdruck wahrlich nicht, aber in ihrer amerikanischen Umgebung hatte er ihr gewiss gute Dienste geleistet. »Oh ja, oh ja«, fauchte sie. »Warum sollen wir uns nicht gleich alles auf einmal anhören?«
    »Vielen Dank.« Holmes nickte in ihre Richtung, dann fuhr er fort. »Nach dem Tod ihres Bruders und der Vernichtung der Flat Cap Gang befand sich Catherine O’Donaghue – denn das war ihr richtiger Name – in einer ziemlich verzweifelten Lage. Jedenfalls musste ihr das so vorkommen. Sie war allein in Amerika und wurde von der Polizei gesucht. Außerdem hatte sie den Menschen verloren, der ihr näher als jeder andere auf diesem Planeten stand und den sie innig geliebt haben muss: ihren Bruder. Ihr erster
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