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Karibische Affaire

Karibische Affaire

Titel: Karibische Affaire
Autoren: Agatha Christie
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    » B etrachten wir nur einmal die Ereignisse in Kenia«, sagte Major Palgrave. »Jeder, der nie dort gewesen ist, redet darüber. Aber ich war dort! Vierzehn Jahre lang! Noch dazu die besten Jahre meines Lebens…«
    Die alte Miss Marple nickte höflich und hing ihren eigenen Gedanken nach, während Major Palgrave mit seinen recht farblosen Lebenserinnerungen fortfuhr. Sie kannte derlei Erzählungen nur zu gut. Was wechselte, war lediglich der Schauplatz. Früher war es hauptsächlich Indien gewesen, mit Majoren, Obersten, Generalleutnants – und einer vertrauten Reihe von Wörtern wie: Simla, Träger, Tiger, Chota Hazri, Tiffin, Khitmagars und so weiter. Bei Major Palgrave differierten die Ausdrücke ein wenig: Safari, Kikuyu, Elefanten, Swahili. Aber das Schema blieb im Wesentlichen gleich: Ein älterer Herr brauchte einen Zuhörer, um noch einmal seine glücklicheren Tage zu durchleben, jene Tage, in denen sein Rücken noch straff, seine Augen und sein Gehör noch scharf gewesen waren. Manche dieser Erzähler sahen noch recht gut aus, waren stramme, soldatische Burschen, aber es gab auch welche, die recht betrüblich wirkten; und Major Palgrave mit seinem Purpurgesicht, seinem Glasauge und dem Äußeren eines ausgestopften Frosches gehörte zur zweiten Kategorie.
    Zu ihnen allen war Miss Marple stets von gleich bleibender freundlicher Güte gewesen. Sie hatte aufmerksam dagesessen und von Zeit zu Zeit zustimmend genickt, während sie ihren eigenen Gedanken nachgegangen war und sich am jeweils Erfreulichen erfreut hatte. Und das war in diesem Fall das Karibische Meer.
    Wirklich freundlich von dem netten Raymond, dachte sie dankbar. Ja, wirklich ausgesprochen freundlich… Dabei wusste sie gar nicht, weshalb er sich so sehr um seine alte Tante kümmerte. War es Verantwortung, war es Familiengefühl? Oder hatte er sie tatsächlich gern?
    Alles in allem schien er sie wirklich gern zu haben, schon seit eh und je, wenn auch auf eine ärgerliche, ein wenig geringschätzige Art: Stets wollte er sie auf dem Laufenden halten, sandte ihr Bücher, moderne Romane, schwierige Lektüre über unerfreuliche Leute, die so merkwürdige Dinge taten, ohne daran Vergnügen zu finden. »Sex« – dieses Wort war in Miss Marples Jugend nicht oft erwähnt worden; aber gegeben hatte es eine Menge davon! Zwar sprach man nicht so viel darüber – aber man fand bedeutend mehr Gefallen daran als heutzutage. Zumindest kam es ihr so vor. Und obwohl Sex als Sünde gegolten hatte, meinte sie doch, es sei damals eine schönere Sache gewesen als das, wozu man heutzutage verpflichtet zu sein schien.
    Ihr Blick verweilte für einen Moment auf dem in ihrem Schoß aufgeschlagenen Buch. Bis Seite 23 war sie gekommen, dann hatte sie die Lust daran verloren. Sie las:
     
    ›»Soll das heißen, Sie hätten überhaupt keine sexuellen Erfa h rungen?‹, fragte der junge Mann ungläubig. ›Mit neunzehn? A ber das müssen Sie doch! Das ist lebenswichtig!‹
    Das Mädchen ließ unglücklich den Kopf hängen, sodass das glatte fettglänzende Haar ihr übers Gesicht fiel.
    ›Ich weiß‹, murmelte sie, ›ich weiß.‹
    Er betrachtete sie, sah den fleckigen alten Pullover, die nackten Füße, die schmutzigen Fußnägel, atmete den ranzigen Fettgeruch – und fragte sich, weshalb er so verrückt nach ihr gewesen war.«
     
    Und Miss Marple fragte sich mit ihm. Was sollte man dazu sagen! Sexuelle Erfahrungen aufgenötigt zu bekommen wie ein Eisenpräparat! Arme junge Dinger…
    »Beste Tante Jane, warum immer Vogel Strauß spielen? Warum vergräbst du dich so in dein idyllisches Landleben? Was zählt, ist ja doch nur das wirkliche Leben!«
    Soweit Raymond. Und seine Tante Jane war ordentlich beschämt gewesen und hatte ihm zugestimmt, um nur ja nicht für altmodisch gehalten zu werden.
    Dabei war das Landleben alles andere als idyllisch! Leute wie Raymond hatten ja keine Ahnung von dem, was Jane Marple kannte, ohne erst viel davon zu reden oder gar noch darüber zu schreiben! Da gab es sexuelle Beziehungen noch und noch, natürliche und widernatürliche. Da gab es Notzucht, Blutschande, Perversion jeder Art, Dinge, von denen die neunmalklugen Bücher schreibenden Oxfordherrchen nicht einmal gehört zu haben schienen!
    Wieder auf den Antillen, nahm Miss Marple den dürftigen Faden aus Major Palgraves Erzählungen erneut auf.
    »Ein ungewöhnliches Erlebnis«, sagte sie ermunternd. »Und interessant…«
    »Ach, da könnte ich Ihnen noch ganz andere Dinge
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