Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
Vom Netzwerk:
sie niederzuschreiben und den Holmes-Kanon so zu vollenden. In dieser Beziehung bin ich wie ein Wissenschaftler, der einer bestimmten Formel nachjagt, oder ein Briefmarkensammler, der auf seine Kollektion nicht wirklich stolz sein kann, solange es noch ein, zwei seltene Marken gibt, die sichseinem Zugriff entziehen. Ich kann nicht anders. Es muss getan werden.
    Bisher war es unmöglich – und das lag nicht nur an der bekannten Abneigung gegen öffentliche Aufmerksamkeit, die meinen Freund auszeichnete. Nein, die Ereignisse, die ich im Folgenden beschreiben will, waren einfach zu ungeheuerlich und schockierend, um gedruckt zu werden. Und das sind sie noch immer. Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass sie das ganze Gefüge unserer Gesellschaft zerreißen könnten, wenn sie veröffentlicht würden, und das ist, besonders in Zeiten des Krieges, ein Risiko, das ich nicht eingehen darf. Wenn ich die Kraft dafür aufbringe, die Niederschrift abzuschließen, werde ich das Manuskript versiegeln und in einem Schließfach im Tresor von Cox & Co am Charing Cross deponieren lassen, wo auch gewisse andere private Papiere von mir aufbewahrt werden. Ich werde Anweisung geben, dass dieses Päckchen erst in hundert Jahren geöffnet werden darf. Man kann zwar nicht wissen, wie die Welt dann aussehen und welche Fortschritte die Menschheit bis dahin gemacht haben wird, aber vielleicht sind künftige Leser im Hinblick auf Skandale und Korruption doch etwas besser gewappnet, als es die heutigen sind. Ihnen hinterlasse ich ein letztes Porträt meines Freundes Sherlock Holmes – und eine Perspektive, die bisher noch ganz unbekannt war.
    Aber ich habe schon zu viel Kraft auf meine eigenen Sorgen verschwendet. Ich hätte längst die Tür von Baker Street 221b öffnen und den Raum betreten sollen, in dem so viele Abenteuer begonnen haben. Ich sehe alles vor mir, das Glühen der Lampe hinter den Scheiben und die siebzehn Stufen, die mich von der Straße zur Tür führten. Wie weit weg sie mir heute erscheinen! Wie lange es her ist, dass ich zuletzt dort war! Ja. Da steht er, die Pfeife in der Hand. Er dreht sich zu mir um. Er lächelt. »Das Wild ist auf!«

1

Der Galerist aus Wimbledon
    »Die Grippe ist unangenehm«, sagte Sherlock Holmes. »Aber Sie haben vollkommen recht: Mit der Hilfe Ihrer Gemahlin wird das Kind schnell wieder zu Kräften kommen.«
    »Das hoffe ich sehr«, erwiderte ich, dann hielt ich inne und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ich hatte meine Tasse schon zum Mund geführt, aber jetzt stellte ich sie so abrupt wieder hin, dass der Tee fast herausgeschwappt und die Untertasse vom Tisch gerutscht wäre. »Aber jetzt haben Sie wirklich Gedanken gelesen!«, rief ich. »Wie, um Himmels willen, haben Sie das gemacht, Holmes? Ich schwöre, ich habe weder über das Kind noch über seine Krankheit auch nur ein Wort verloren. Sie wissen, dass meine Frau verreist ist – das konnten Sie vermutlich schon daraus schließen, dass ich hier anwesend bin. Aber ich habe keinerlei Gründe für ihre Abwesenheit genannt, und ich denke, auch mit meinem Verhalten habe ich Ihnen keinerlei Hinweis darauf gegeben.«
    Es war einer der letzten Novembertage des Jahres 1890, als dieser Wortwechsel stattfand. Ein gnadenloser Winter hatte London im Griff, auf den Straßen war es so kalt, dass sogar die Gaslaternen wie gefroren erschienen, und das wenige Licht, das sie spendeten, wurde vom ewigen Nebel geschluckt. Vor dem Fenster trieben die Passanten wie Geister über das Pflaster, mit gesenkten Köpfen und fest umhüllten Gesichtern, während die endlose Kolonne schwarzer Kutschen vorbeiratterte, deren Zugpferde eilig zum heimischen Stall strebten. Ich war froh, indiesem warmen Zimmer zu sitzen, wo ein Feuer im Kamin flackerte, wo der vertraute Duft von Pfeifentabak in der Luft hing und wo – bei allem Durcheinander verschiedenster Gegenstände, mit denen mein Freund sich umgab – doch stets das Gefühl herrschte, dass alles am rechten Fleck war.
    Ich hatte Holmes telegrafiert, dass ich gern für ein paar Tage mein altes Zimmer wieder beziehen würde, und war sehr erleichtert, als er mir umgehend mitteilte, dass dem nichts entgegenstünde. Meine Praxis konnte eine Weile ohne mich auskommen. Und eine Zeitlang würde ich Strohwitwer sein. Insgeheim war mir aber auch daran gelegen, bei meinem Freund Wache zu halten, bis er gänzlich wieder genesen war. Denn Holmes hatte drei Tage und drei Nächte gehungert und auch kein Wasser zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher