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Das Geheimnis der Haarnadel

Das Geheimnis der Haarnadel

Titel: Das Geheimnis der Haarnadel
Autoren: Henry Fitzgerald Heard
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können; hatte im Frühjahr eine Grippe, mit lang anhaltenden depressiven Störungen. Soweit der Allgemeinzustand oder der Grad der Wahrscheinlichkeit. Aber haben wir einen Hinweis auf irgendeine spontane Provokation, etwas, das das Pulverfaß der Selbstverachtung zum Explodieren hätte bringen können?«
    Der Inspektor wußte durchaus effektvoll zu formulieren, und ich vermerkte seine rhetorischen Bemühungen anerkennend. Doch noch mehr wußte ich es zu schätzen, als er hinzufügte: »Damit kämen wir zu diesem Beweisstück« und hinüber zu einem Tisch ging, aus dessen Schublade er ein schön gebundenes Buch zog – eine Augenweide. Er hielt es in die Höhe, damit wir es betrachten konnten. Ich erkannte sogleich, daß es sich um einen Band der wunderbaren Nonpareil-Edition antiker Klassiker handelte, in Schweinsleder gebunden und in der prachtvollen Type dieses Hauses auf Spartgraspapier gedruckt – ein ausgesprochenes Schmuckstück und eine Zierde für jedes Zimmer, selbst wenn man es niemals aufschlug. Auf dem stattlichen Rücken konnte man mühelos in feinen Goldbuchstaben, für die die Kapitale der Inschrift auf der Trajanssäule zum Vorbild gedient hatten, den Titel lesen: Sueton: De vita Caesarum. Martial: Epigrammata. Plinius: Epistulae.
    Mr. M. ließ sich den noblen Band vom Inspektor reichen. »Eine faszinierende Zusammenstellung! Zuerst die kaum faßbare Geschichte, wie absolute Macht nacheinander zwölf größtenteils gewöhnlichen Männern zufiel, mit Folgen, die ungeheuerlich waren und in der Regel tödlich, nicht nur für alle, die in ihre Nähe kamen, sondern auch für sie selbst. Dann der unvergleichlich präzise satirische Kommentar auf eine solche Gesellschaft vom Vater des Epigramms. Und schließlich die besonnenen Reflexionen eines gebildeten Gentleman, der unmittelbar nach dieser allzu turbulenten Epoche lebte – der ideale Einsatz für einen Moralisten. Ich habe es immer bewundert, wie man auf diese Weise darstellen kann, wie das goldene Zeitalter der Latinität sich, wie der Herbst im späten Oktober, von Gold in Silber wandelte. Hier zum Beispiel: wie hier Martials berühmtes Epigramm 1.14 auf der einen Seite steht und ihm auf der anderen die Epistel 111.16 des Plinius gegenübergestellt ist. Was könnte glücklicher gewählt sein – das eine erläutert das andere! Und nach den Schrecken der tatsächlichen Tyrannei, wie Sueton sie zuvor beschrieben hat, wählen der Dichter und der Verfasser der Epistulae für ihren Kommentar einen heroischen Akt, der um so strahlender leuchtet vor dem düsteren Hintergrund willkürlicher Gewalt.«
    Ich glaube, der Inspektor verlor ein wenig die Geduld mit Mr. M. als dieser auf seinem höchst eigenen Gebiet der Rhetorik mit ihm in Wettstreit trat und ihn überflügelte. Ich für meinen Teil bedauerte es nicht im geringsten, als wir von Kommentaren über die Halsabschneider der Antike zu der Frage, die uns eigentlich beschäftigte, zurückkehrten.
    »Sie werden verstehen«, fuhr unser Informant fort, »warum ich Ihnen dieses Buch gezeigt habe. Was Sie hier sehen, ist die Seite, die das Opfer las, als der tödliche Impuls ihn packte. Wir finden darin das, was, dessen bin ich gewiß, jeder Geschworene auch ohne die Auskunft eines Arztes als den >Auslöser« identifizieren würde.«
    »Aber«, wandte Mr. M. ein, »woher wissen Sie, daß das tatsächlich die Seite war, die er las, und nicht einfach nur die Stelle, an der das Buch aufklappte, als er darüber zu Boden stürzte?«
    »Schauen Sie sorgfältig in die Vertiefung zwischen den Seiten. Da ist Zigarettenasche, die bis in die Bindung hinein gerieselt ist. Das ist der Beweis, daß dies die Stelle ist, an der Sankey angelangt war, als der Impuls ihn mit einem Male packte.«
    »Aber warum…?« hob Mr. M. an; doch dann verstummte er und las.
    Unser äußerst wohlunterrichteter Informant ahnte offenbar, was er fragen wollte.
    »Wer im gegenwärtigen Leben Spuren liest, um dadurch den Motiven der Toten nachzuspüren, hat keine Zeit, tote Sprachen zu studieren«, sagte er. »Doch sobald ich sah, daß die Asche die letzte Seite markiert hatte, die der Tote gelesen hatte, ließ ich sie mir übersetzen. Der hiesige Pfarrer, der gekommen war, um Vorkehrungen für die Beerdigung zu treffen, und bei dem ich mich nach Milium erkundigte, ist ein guter Lateiner und war so freundlich, mir diese Fassung aufzuschreiben«, und mit diesen Worten zog er einen Zettel aus der Tasche. »Diese Zeilen zeigen uns tatsächlich,
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