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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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Bleistiftlinien der Eulerschen Formel nach, wobei ich achtgab, sie nicht zu verwischen. Die beiden niedlich geschwungenen Beine des π, die unvermutet kraftvolle Betonung des i-Punktes, der entschiedene Bogen der 0 – all diese Eigenheiten konnte ich mit meiner Fingerkuppe spüren.
    In der Verlängerung verpassten die Tigers mehrere Chancen, das Spiel zu gewinnen. Müde verfolgte ich die zwölfte, dreizehnte, vierzehnte Runde, ohne dabei den Gedanken loszuwerden, dass das Spiel eigentlich schon entschieden worden war. Die Tigers schafften es einfach nicht, den entscheidenden Punkt zu erzielen. Durch das Fenster schien der Vollmond, als der nächste Tag begann.
    Der Professor hatte vielleicht kein Geschick im Überreichen von Geschenken, aber er besaß eine charmante Art, sie in Empfang zu nehmen. Sein Gesichtsausdruck, als er von Root die Enatsu-Karte erhielt, war ein unvergesslicher Anblick. Verglichen mit der bescheidenen Mühe, die wir hatten, um die Karte zu finden, war die Dankbarkeit des Professors grenzenlos.
    Er löste das Geschenkband und betrachtete wortlos die Karte. Dann schaute er auf, um sich zu bedanken, aber die Stimme versagte ihm. Mit zitternden Lippen presste er sie innig an seine Brust.
    Die Tigers hatten nicht gewonnen. Nach der 15. Runde der Verlängerung wurde das Spiel beim Stande von 3 : 3 abgebrochen. Die Partie hatte sechs Stunden und sechs-undzwanzig Minuten gedauert.
    Zwei Tage nach unserer Feier wurde der Professor in ein Pflegeheim eingeliefert. Die Witwe hatte uns telefonisch darüber informiert.
    »Das kommt für uns sehr überraschend«, sagte ich zu ihr.
    »Ich hatte das schon seit Längerem geplant, aber es war bis heute kein Platz frei«, erklärte seine Schwägerin.
    »Ihre Entscheidung hat doch nichts damit zu tun, dass mein Sohn und ich über meine Dienstzeit hinaus bei ihm waren, oder?«
    »Nein«, sagte sie sanft. »Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Ich wusste ja, es würde der letzte Abend sein, den er mit seinen Freunden verbringt. Aber Sie haben doch sicher selbst bemerkt, was mit ihm los war.«
    Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
    »Das 80-Minuten-Band funktioniert nicht mehr. Sein Gedächtnis reicht nun nicht über 1975 hinaus. Nicht eine einzige Minute.«
    »Ich würde ihn auch im Pflegeheim betreuen.«
    »Das ist nicht nötig. Er ist dort in guten Händen. Außerdem …« Sie stockte kurz, fuhr dann aber fort: »Ich werde bei ihm sein. An Sie wird sich mein Schwager nie mehr erinnern, mich hingegen wird er nie vergessen.«
    Das Pflegeheim lag vierzig Minuten Fahrzeit von der Stadt entfernt in Richtung Meer, auf einem Hügel neben einem verwaisten Flughafengelände. Man musste von der Bundesstraße, die an der Küste entlangführte, in eine Nebenstraße abbiegen, um dorthin zu gelangen. Aus dem Fenster des Besuchszimmers konnte man die Risse auf der Startbahn erkennen und das Gras, das auf den Dächern der Hangars wuchs. Dahinter war das Meer zu sehen. An sonnigen Tagen glitzerte das Wasser wie ein Lichtband, das sich bis zum Horizont erstreckte.
    Root und ich besuchten den Professor fast jeden Monat. Am Sonntagmorgen packten wir den Picknickkorb und nahmen den Bus. Zuerst saßen wir mit dem Professor im Besuchszimmer, dann gingen wir auf die Terrasse, um gemeinsam Mittag zu essen. An warmen Tagen spielten Root und er auf dem Rasen vor der Anstalt Baseball. Danach tranken wir Tee und redeten noch so lange miteinander, bis unser Bus ging.
    Meistens war die Witwe auch da. Normalerweise ließ sie uns mit dem Professor allein und erledigte indessen ein paar Einkäufe, aber manchmal leistete sie uns auch Gesellschaft. Sie füllte ihre Rolle als einziger Mensch, der die Erinnerungen des Professors teilte, mit Demut aus.
    Wir besuchten den Professor einige Jahre lang, bis zu seinem Tod. Während seiner gesamten Schulzeit spielte Root Baseball, bis er sich am Knie verletzte und damit aufhören musste. Ich arbeitete weiter als Haushälterin für die Akebono-Agentur. Selbst als Root mir längst über den Kopf gewachsen war, blieb er für den Professor der kleine Junge, den es zu beschützen galt. Und als der Professor nicht mehr an seine Baseballkappe herankam, beugte sich Root zu ihm hinunter, damit er über sein Haar streichen konnte.
    Der Professor trug nach wie vor seine alten Anzüge. Nur die Zettel hatten ihren Sinn verloren und fielen einer nach dem anderen ab. Der wichtigste von allen, jene Notiz, die ich so oft erneuert hatte –
Meine Erinnerung
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