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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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anderen auf. Wie der Mann im Laden gesagt hatte, besaßen einige Karten geprägte Bilder, andere waren mit Autogrammen versehen, und manche waren sogar goldverziert. Root verkniff es sich irgendwann, bei jeder Karte seine Freude oder seine Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen. Er schien begriffen zu haben, dass wir schneller vorankamen, wenn wir uns auf unsere Arbeit konzentrierten. Um mich herum lagen die schwarzen Plastiktütchen verstreut, und vor Root hatte sich ein Stapel von Karten angesammelt, der irgendwann so hoch war, dass er einstürzte.
    Jedes Mal, wenn ich in die Kiste griff, schlug mir ein leicht modriger Geruch entgegen. Wahrscheinlich hatten die Karten mit der Zeit das Schokoladenaroma aufgesogen. Als wir dann über die Hälfte des Inhalts durchgearbeitet hatten, verlor ich langsam den Mut.
    Mir schwirrte der Kopf, und ich fragte mich, warum ich mir eigentlich die ganze Mühe machte. Was versprach ich mir eigentlich davon?
    Es waren einfach viel zu viele Baseballspieler. Bei einem Spiel schickt jede Mannschaft neun Spieler aufs Feld. Und es gab so viele Mannschaften, dass sie in zwei Ligen gegeneinander antraten. Jede Saison trat eine Mannschaft mit neuen Spielern an. Natürlich war Enatsu ein großartiger Spieler. Aber es gab noch andere Stars wie Sawamura, Kaneda oder Egawa. Und alle hatten eine riesige Fangemeinde. Trotz der Unmengen von Baseballkarten, die vor uns lagen, war es fast unmöglich, die richtige zu finden. Doch ich hatte ja noch die Schuhe als Geschenk. Die waren zwar nicht besonders edel, sondern eher schlicht, aber sie sahen immerhin bequem aus und waren auf jeden Fall teurer als eine einzelne Baseballkarte. Der Professor hätte sich bestimmt darüber gefreut.
    »Ah!« Root hielt urplötzlich inne. Er sah so ernst aus, dass ich zuerst gar nicht auf die Idee kam, er könnte die gesuchte Karte in den Händen halten. Stumm sah er die Karte an, für einen Moment lang war er ganz allein mit Enatsu. Ich war sprachlos. Es war eine Premiumkarte aus der limitierten Auflage von 1985. Eine von den Karten, die ein Stück von Enatsus Handschuh enthielt. Es war am Vorabend der Feier.

10
    Es war ein großartiges Fest. Eigentlich das schönste, das ich je erlebt habe. Es war weder aufwendig noch prunkvoll, sondern eher wie Roots erster Geburtstag im Heim für alleinerziehende Mütter oder die Weihnachtsfeste zusammen mit meiner Mutter. Eigentlich konnte man all das gar nicht als Fest bezeichnen, aber Roots elfter Geburtstag war in der Tat ein außergewöhnlicher Tag, vor allem weil der Professor mit uns feierte. Noch dazu war es der letzte Abend, den wir gemeinsam verlebten.
    Wir warteten, bis Root aus der Schule kam, und trafen dann zu dritt die Vorkehrungen für unsere kleine Party. Ich bereitete das Essen vor, während Root den Boden aufwischte und der Professor eine Tischdecke bügelte.
    Er hatte den Termin nicht vergessen. Nachdem er sich am Morgen vergewissert hatte, dass ich seine Haushälterin war und einen Sohn namens Root hatte, zeigte er auf das heutige Datum, das auf dem Kalender markiert war.
    »Heute ist der 11. September«, sagte er und wedelte mit dem Zettel herum, der ihm als Gedächtnisstütze diente, so als wollte er dafür gelobt werden, dass er sich daran erinnern konnte.
    Ich hatte ihn nicht darum gebeten, das Tischtuch zu bügeln. Allein wenn ich an seine Unbeholfenheit dachte, wäre es fast sicherer gewesen, Root damit zu beauftragen. Ich hatte gehofft, dass er sich wie üblich in seinem Sessel ausruhen würde, aber er bestand darauf, uns behilflich zu sein:
    »Es geht doch nicht, dass ein erwachsener Mensch tatenlos zuschaut, wenn ein kleiner Junge so tüchtig zupackt.«
    Ich hatte zwar damit gerechnet, aber dass er ein Tischtuch bügeln wollte, überstieg dann doch mein Vorstellungsvermögen. Es erstaunte mich auch, dass er wusste, wo im Schrank das Bügeleisen stand, aber noch erstaunter war ich darüber, mit welcher Sorgfalt er daraufhin das Stück Stoff aus dem hinteren Teil des Schranks zog und es ausbreitete wie ein Zaubertuch. In dem halben Jahr, seitdem ich bei ihm arbeitete, hatte ich nie eine Tischdecke zu Gesicht bekommen.
    »Zur Vorbereitung einer Feier gehört, als Erstes den Tisch zu decken. Finden Sie nicht auch? Ich bin übrigens sehr gut im Bügeln.« Ich hatte keine Ahnung, wie lange das Tuch wohl dort im Schrank gelegen haben mochte, jedenfalls sah es ziemlich zerknittert aus.
    Die schwüle Hitze des Sommers hatte sich verflüchtigt, und die Luft war nun
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