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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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dauert nur 80 Minuten
–, verschwand. Und auch das Porträt von mir mit dem Wurzelzeichen daneben fiel irgendwann herunter.
    Sein Markenzeichen war nun die Enatsu-Karte, die um seinen Hals baumelte. Die Witwe hatte ihm ein Loch in die Plastikhülle gestanzt und eine Kordel durchgezogen, sodass er sie immer bei sich tragen konnte.
    Root kam nie ohne seinen Handschuh, den ihm der Professor zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie spielten sich Bälle zu, und egal wo der Professor hinwarf, Root schaffte es immer irgendwie, sie zu fangen. Die Witwe und ich saßen derweil als Zuschauer auf dem Rasen und applaudierten ihnen.
    Selbst als Roots Hand ausgewachsen war und der Handschuh ihm nicht mehr passte, benutzte er ihn weiterhin. Er behauptete, ein enger Handschuh sei besser, weil er damit schneller reagieren könne. Das Leder war schon ganz ausgebleicht und die Ränder zerschlissen, auch das Firmenlogo war längst verloren gegangen, aber für Root war dieser Handschuh unersetzlich. Man brauchte nur die Fingerspitzen hineinzustecken, und schon konnte man die Form von Roots Hand erahnen. Das speckige Leder, mit dem zahllose Bälle gefangen worden waren, war auf seine Art sehr würdevoll.
    Unser letzter Besuch beim Professor war im Herbst jenes Jahres, in dem Root zweiundzwanzig Jahre alt wurde.
    »Weißt du eigentlich, dass man sämtliche Primzahlen außer der 2 in zwei Gruppen aufteilen kann?« fragte ihn der Professor, der auf einem Sonnenstuhl saß und seinen Bleistift zückte.
    Es waren keine anderen Heimbewohner in der Nähe, und die Leute, die hin und wieder an der Glastür des Besuchszimmers vorbeiliefen, schienen unendlich weit weg zu sein. Es war nur die Stimme des Professors zu hören:
    »Wenn n eine natürliche Zahl ist, dann kann jede Primzahl entweder in der Formel 4n + 1 oder 4n – 1 ausgedrückt werden. Einer der beiden passt immer.«
    »Zwei Gruppen sollen ausreichen, um die unendliche Menge an Primzahlen zu unterscheiden?« fragte ich zutiefst erstaunt.
    Die mit Bleistift geschriebene Formel sah wie immer sehr schlicht aus, aber ihre immense Bedeutung zu erfassen überstieg meine Vorstellungskraft.
    »Wenn wir beispielsweise die 13 nehmen …«
    »Das wäre dann 4 × 3 + 1«, fiel ihm Root in Wort.
    »Genau. Und 19?«
    »4 × 5 – 1.«
    »Genau.« Der Professor nickte selig.
    »Und dann ist da noch etwas: Alle Zahlen der ersten Gruppe können als Summe zweier Quadratzahlen ausgedrückt werden, aber die der zweiten Gruppe nie.«
    »13 wäre dann 2 2 + 3 2 .«
    »Richtig. Die Schönheit des Primzahlen-Theorems ist überwältigend, nicht wahr?«
    Die Freude des Professors hatte nie etwas mit dem Schwierigkeitsgrad der Aufgabe zu tun. Ob sie leicht war oder schwer, das Entscheidende war, die richtige Lösung miteinander zu teilen.
    »Root hat das Lehramtsexamen für die Mittelschule bestanden. Ab nächstem Frühjahr arbeitet er als Mathematiklehrer«, verkündete ich voller Stolz.
    Der Professor wollte Root um den Hals fallen, aber seine Arme hatten nicht mehr die Kraft dazu. Also beugte sich Root vor und zog ihn an sich. Zwischen ihnen baumelte die Karte von Enatsu.
    Es ist bereits Abend. Die Dunkelheit hat sich über die Zuschauerränge und die Anzeigetafel gelegt. Nur Enatsu auf dem Wurfhügel ist zu sehen. Es ist der Moment, kurz nachdem er den Ball geworfen hat. Sein rechter Fuß bohrt sich vor ihm in den Boden, sein Blick folgt dem Ball, der vom Handschuh des Fängers aufgesogen wird. Die aufgewirbelte Staubwolke zeugt von der Kraft des Wurfs. Es ist der schnellste Ball, den Enatsu je geworfen hat. Ich kann die Rückennummer auf seinem Trikot sehen. Es ist die 28. Eine vollkommene Zahl.
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