Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
Vom Netzwerk:
die Schachtel mit der Torte und stellte sie noch einmal in den Kühlschrank. Der Professor und ich setzten uns an den Esstisch und warteten darauf, dass Root zurückkehrte.
    Die Tischdecke sah prachtvoll aus. Ohne eine einzige Falte kam das fein gewebte Spitzenmuster nun voll zur Geltung und machte aus unserem Esstisch eine richtige Festtafel. In der Mitte des Tischs stand in einem Joghurtglas ein Strauß wilder Blumen, die ich im Garten gepflückt hatte. Die einzelnen Teile des sorgfältig arrangierten Bestecks passten zwar nicht zueinander, aber wenn man von diesem kleinen Makel absah, war alles perfekt.
    Verglichen damit war das Essen eher bescheiden: Krabbencocktail, Roastbeef, Kartoffelpüree, Spinat mit Speck, Erbsensuppe und Fruchtbowle. Das waren Roots Lieblingsspeisen, und den Professor verschonte ich diesmal mit den verhassten Karotten. Es gab keine speziellen Saucen oder extravagante Zutaten, es waren einfach nur die schlichten, vertrauten Gerichte. Aber es duftete herrlich.
    Wir saßen uns gegenüber und lächelten uns verlegen an, da wir nicht wussten, worüber wir reden sollten. Der Professor hüstelte, setzte sich aufrecht hin und zupfte an seinem Kragen, offensichtlich in Erwartung, dass die Feier gleich beginnen würde. Auf dem Tisch fehlte nur noch die Torte, die direkt vor Roots Platz stehen sollte. Unser Blick fiel auf den leeren Stuhl.
    »Ist er nicht schon zu lange weg?« murmelte der Professor mit einem leichten Zögern in der Stimme.
    »Nein, ich denke nicht«, entgegnete ich, ein wenig erstaunt, dass er sich über die Zeit Gedanken machte und dabei auf die Uhr schaute.
    »Es ist noch nicht mal zehn Minuten her.«
    »Ach wirklich?«
    Ich schaltete das Radio ein, um ihn abzulenken. Die Live-Übertragung vom Spiel der Tigers gegen Yakult hatte gerade angefangen. Unsere Blicke wanderten wieder zu dem leeren Stuhl.
    »Wie lange ist er schon weg?«
    »Zwölf Minuten.«
    »Müsste er nicht längst zurück sein?«
    »Haben Sie keine Sorge, es ist alles in Ordnung.«
    Ich fragte mich, wie oft ich das schon gesagt hatte, seitdem ich für den Professor arbeitete. Bei unserem Friseurbesuch, neben der Röntgenkabine beim Arzt, auf der Busfahrt vom Stadion nach Hause.
Haben Sie keine Sorge, es ist alles in Ordnung
. Manchmal hatte ich ihm über den Rücken gestrichen, andere Male seine Hand getätschelt. Aber war es mir jemals gelungen, ihn zu trösten? Sein wahres Leiden fand an einem ganz anderen Ort statt, und ich hatte immer das Gefühl, dass ich dort nie Zutritt hatte.
    »Er wird gleich kommen!«
    Das waren die einzigen tröstenden Worte, die mir einfielen.
    Je dunkler es draußen wurde, desto unruhiger wurde er. Alle dreißig Sekunden nestelte er an seinem Kragen herum und schaute besorgt zur Uhr hinüber. Dabei merkte er gar nicht, dass sich bei jeder seiner Bewegungen ein Zettel von seinem Anzug löste und langsam zu Boden segelte.
    Aus dem Radio ertönte Jubel. Paciorek hatte am Ende des ersten Durchgangs einen Treffer erzielt, sodass die Tigers in Führung gingen.
    »Wie lange ist es jetzt her?«
    Er fragte nun in immer kürzeren Abständen.
    »Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen?«
    Die Beine des Stuhls, auf dem er unruhig hin und her rutschte, scharrten über den Boden.
    »Schon gut. Ich gehe ihn suchen. Aber es besteht kein Grund zur Sorge.« Ich stand auf und legte ihm meine Hand auf die Schulter.
    Ich traf Root am Anfang der Einkaufsstraße. Der Professor hatte recht gehabt: Es hatte in der Tat ein Problem gegeben. Die Konditorei war bereits geschlossen. Doch Root war so clever gewesen, eine Lösung zu finden. Er hatte auf der Rückseite des Bahnhofs eine andere Konditorei ausfindig gemacht, wo man ihm ein paar Kerzen schenkte, als er sein Malheur schilderte. Zügig eilten wir zum Haus des Professors zurück.
    Als wir dort eintrafen, merkten wir sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Blumen im Joghurtglas waren immer noch frisch, die Tigers führten gegen Yakult, und die Teller mit den Speisen standen ordentlich nebeneinander auf dem Tisch. Dennoch war in der kurzen Zeit, als wir weg waren, etwas passiert. Auf dem Tisch stand die Geburtstagstorte, jedoch völlig zerdrückt. Wie angewurzelt stand der Professor daneben, den leeren Karton in Händen. Sein Rücken verlor sich in der Dunkelheit.
    »Ich wollte sie bereitstellen, damit wir gleich anfangen können«, murmelte er mit niedergeschlagenem Blick, als wollte er sich bei der Schachtel entschuldigen.
    »Es tut mir so leid. Ich weiß nicht,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher