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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben
Autoren: Jan Guillou
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    Erst erschossen sie das falsche Weibsstück. Das wäre in der Formulierung des einzigen überlebenden Mörders die Erklärung für den einen Mord auf Vrångaholm. Reine Schlamperei also.
    Sonst fand sich im Verhalten der Täter nicht viel, was auf Schlamperei hindeutete. Der Zeitpunkt für den Angriff war bemerkenswert gut gewählt. Das Ganze war überdies in weniger als fünfzehn Sekunden vorbei, und das einschließlich der Zeit, die es kostete, ein aus einer Wochenzeitschrift herausgerissenes Foto hochzuhalten, den Irrtum zu entdecken und ihn zu korrigieren.
    Am Sonntag, dem 13. November 1994, begab sich eine gespaltene schwedische Nation an die Wahlurnen, um über die Frage abzustimmen, ob Schweden Mitglied der Europäischen Union werden sollte oder nicht. Während des gesamten Herbstes hatten die Beitrittsgegner in allen Meinungsumfragen klar geführt, und erst in der allerletzten Zeit hatten sich die Befürworter so weit angenähert, daß der Ausgang der Wahl nicht mehr als gewiß gelten konnte.
    In jeder zufällig zusammengewürfelten Gruppe von Staatsbürgern hätte es an diesem Abend hitzige Diskussionen über das Für und Wider gegeben. Und wenn man auch noch die Menge guten Weins in Betracht zog, den gutes Essen und ein Fest erfordern, hätte die Diskussion empört, ja sogar gehässig werden können, nachdem die eine Seite behauptet hatte, Schweden sei jetzt dabei, ein Vasallenstaat Deutschlands zu werden. Die Deutschen würden bald auf schwedischem Boden einmarschieren, sofern dieser überhaupt noch schwedisch und noch nicht von Deutschen aufgekauft sei. Und die andere Seite hätte betont, das Land riskiere einen sofortigen Ruin und die Verlagerung aller schwedischen Industrieunternehmen in das Ausland, wonach nur noch die Eigentümer von Rentierherden eine anständige Möglichkeit hätten, ihr tägliches Brot zu verdienen, falls die Beitrittsgegner sich durchsetzten.
    Die sechzehn Personen auf Vrångaholm hatten das Thema im Lauf des Tages überhaupt nicht diskutiert. Das lag jedoch keineswegs daran, daß sie in der Sache nicht engagiert waren. Im Gegenteil, sie hatten bei der Volksabstimmung alle mit Ja gestimmt. Allerdings schon früher in der Woche per Briefwahl, da sie ja wußten, daß sie den ganzen Sonntag auf Vrångaholm verbringen würden. Außerdem waren sie tief und ehrlich davon überzeugt, daß der Anschluß Schwedens an die EU notwendig sei, da sie in dieser oder jener Form alle ihr Einkommen aus der Landwirtschaft bezogen – was nicht unbedingt Landwirtschaft bedeutet, sondern ebensosehr, daß man gegen bestimmte staatliche Subventionen auf Landwirtschaft verzichtet, und diese Entschädigungszahlungen waren in der EU mit Sicherheit höher als in Schweden. Gerade in dieser Gesellschaft gab es für eine Diskussion also nicht sonderlich viel Anlaß.
    Überdies hatte man den ganzen Tag der Jagd gewidmet, einer der besten Jagden des Jahres in Skåne, da Vrångaholm wegen seines Rothirschbestands einen guten Ruf genoß. Man würde also Rothirsch jagen, Damhirsch, Rehwild und gegebenenfalls auch Schwarzwild. Unter solchen Umständen ist es nicht nur unpassend, den Versuch zu machen, über Politik zu diskutieren, sondern es bleibt überdies kaum Zeit, über anderes zu sprechen als die eigentliche Jagd.
    Der Tag hatte sehr gut angefangen. Nach den üblichen Zeremonien auf dem Rasen vor dem Schloß, wo der Gastgeber schnell die Beschränkungen herunterleierte, die bei der Jagd galten – keine Keiler über einer bestimmten Körpergröße, keine führenden Bachen, bei Damhirschen keine Halbschaufler, selbstverständlich keine Rothirsche zwischen acht und zwölf Enden, ebensowenig Rehböcke, die abgeworfen haben, und keine Ricken, wenn man nicht absolut sicher ist, daß kein Kitz in der Nähe ist, und so weiter –, hatten die Jäger einen sehr gelungenen Start gehabt.
    Während des erstens Treibens waren zwölf Schuß abgefeuert worden, davon ein Doppelschuß (was darauf hindeuten könnte, daß einer der Jagdgenossen sich einen Fehlschuß erlaubt hatte, da er mit dem ersten Schuß nicht perfekt getroffen hatte), und aus diesem Grund hatte der Gastgeber der Jagdgesellschaft, Claes Peiper, mit einer gewissen Unruhe, von der er natürlich mit keiner Miene etwas verriet, alle Jäger zu sich gerufen, um zu besprechen, was geschehen war.
    Es war lediglich folgendes geschehen: Zwölf Tiere waren mit zwölf Schuß erlegt worden. Der Doppelschuß wurde damit erklärt, daß einer der Vettern, Claude
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