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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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registriert waren, hatte jedoch schon über zehn Jahre Berufserfahrung. Bislang war ich mit den unterschiedlichsten Kunden zurechtgekommen und hatte mich selbst dann nie beim Geschäftsführer beklagt, wenn ich schlecht behandelt wurde. Meine Kolleginnen hingegen machten um solche Kunden einen großen Bogen. Ich konnte mit Fug und Recht behaupten, eine sehr professionelle Einstellung zu haben.
    Im Fall des Professors genügte ein Blick auf seine Karteikarte, um zu ahnen, dass er ein schwieriger Mensch sein musste. Auf der Rückseite wurde mit einem blauen Sternchen vermerkt, wenn die Haushälterinnen wechselten, und beim Professor waren es bereits neun solcher Stempel – der absolute Rekord seit meinem Eintritt in die Firma.
    Als ich mich zum Vorstellungsgespräch begab, wurde ich von einer schlanken älteren Dame in eleganter Aufmachung empfangen. Sie hatte ihr kastanienbraun gefärbtes Haar hochgesteckt, trug ein Strickkleid und benutzte einen Gehstock.
    »Sie werden sich um meinen Schwager kümmern«, erklärte sie.
    Ich fragte mich, in welcher genauen Verwandtschaftsbeziehung die beiden wohl zueinander standen.
    »Bisher hat hier niemand lange zugebracht«, fuhr sie fort. »Das ist für meinen Schwager und mich höchst unerfreulich. Wenn jemand Neues kommt, müssen wir jedes Mal wieder von vorn anfangen. Das ist sehr zeitraubend.«
    Schließlich erfuhr ich, dass sie mit »Schwager« den Bruder ihres Mannes meinte.
    »Die Arbeit ist nicht besonders schwierig. Sie kommen jeden Tag um 11.00 Uhr, von montags bis freitags, bereiten das Mittagessen vor, dann machen Sie die Zimmer sauber, erledigen Einkäufe, kochen das Abendessen und können um 19.00 Uhr nach Hause gehen. Das wäre alles.«
    Ihre Stimme stockte jedes Mal, wenn sie das Wort »Schwager« aussprach. Ungeachtet ihres beherrschten Auftretens spielte ihre linke Hand nervös mit dem Gehstock. Obwohl sie es vermied, dass unsere Blicke sich trafen, bemerkte ich, dass sie mich argwöhnisch musterte.
    »Die Einzelheiten sind in dem Vertrag aufgeführt, den ich in der Agentur hinterlegt habe. Ich möchte nur, dass sich jemand um meinen Schwager kümmert, damit er ein normales Leben führen kann, so wie andere auch.«
    »Wo ist denn Ihr Schwager jetzt?« fragte ich.
    Die Alte wies mit dem Stock auf ein Häuschen hinten im Garten. Ein braunes Schieferdach lugte über eine akkurat geschorene Mispelhecke.
    »Bitte vermeiden Sie es, zwischen dem Gartenhaus und dem Hauptgebäude zu verkehren. Ihre Tätigkeit beschränkt sich allein auf die Wohnung meines Schwagers. An der Nordseite existiert ein Eingang von der Straße. Benutzen Sie bitte in Zukunft ausschließlich diesen. Versuchen Sie alle Probleme mit ihm vor Ort zu regeln. Tun Sie mir den Gefallen und halten Sie sich bitte strikt an diese Regel.«
    Zur Bekräftigung stieß sie mit dem Stock auf den Boden.
    Verglichen mit den absurden Forderungen meiner früheren Arbeitgeber – dass ich Zöpfe und jeden Tag ein andersfarbiges Haarband tragen sollte; dass das Teewasser genau 75 Grad Celsius heiß sein musste; dass ich jeden Abend meine Hände zum Gebet falten sollte, wenn der Abendstern am Himmel aufging – erschienen mir die Wünsche der alten Dame unproblematisch.
    »Kann ich Ihren Schwager jetzt sehen?«
    »Das ist nicht nötig.«
    Sie erteilte mir eine derart schroffe Abfuhr, dass ich das Gefühl hatte, sie beleidigt zu haben.
    »Wenn Sie sich heute bei ihm vorstellen, hat er Sie bis morgen vergessen. Das macht keinen Sinn.«
    »Wollen Sie damit andeuten …«
    »Um ehrlich zu sein, sein Gedächtnis lässt ihn im Stich. Aber er ist nicht etwa senil, seine Geisteskraft ist unvermindert groß. Vor siebzehn Jahren hat er sich bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung zugezogen und leidet seitdem an Gedächtnisverlust. Seit 1975 funktioniert sein Kurzzeitgedächtnis nun schon nicht mehr. Sämtliche neuen Informationen sind nach genau 80 Minuten aus dem System gelöscht. Er kann sich zwar an irgendwelche Theoreme erinnern, die er vor dreißig Jahren aufgestellt hat, aber er weiß nicht mehr, was er gestern zu Abend gegessen hat. Es ist so, als hätte er ein achtzigminütiges Videoband in seinem Kopf, das sich nur einmal abspielen lässt, und wenn er etwas neu aufzeichnen möchte, dann wird die vorherige Erinnerung gelöscht. Sein Gedächtnis währt nur achtzig Minuten. Ganz genau eine Stunde und zwanzig Minuten – nicht mehr und nicht weniger.«
    Die alte Dame ratterte die Ausführungen völlig gefühllos
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