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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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herunter. Wer weiß, wie oft sie das schon hatte erklären müssen.
    Ich konnte mir nur schwer ein Bild machen von einem achtzigminütigen Gedächtnis. Natürlich hatte ich mich schon oft um Kranke gekümmert, aber ich wusste nicht, wieweit diese Erfahrung mir jetzt nützlich sein würde. Erneut fiel mir die Reihe blauer Sternchen auf seiner Karteikarte ein.
    Vom Hauptgebäude aus wirkte der Gartenpavillon wie ausgestorben. In die Mispelhecke war eine altmodische Pforte eingelassen, von wo aus man Zutritt zum Pavillon hatte. Als ich genauer hinschaute, sah ich, dass sie mit einem verrosteten alten Schloss verschlossen war, das mit Vogeldreck überzogen war und das offenbar kein Schlüssel mehr zu öffnen vermochte.
    »Mehr gibt es nicht zu sagen, wir sehen uns am Montag.« Sie beendete das Gespräch, um mir keine Gelegenheit zu geben, irgendwelche überflüssigen Fragen zu stellen.
    So wurde ich also die Haushälterin des Professors.
    Im Vergleich zum stattlichen Hauptgebäude wirkte der Gartenpavillon äußerst schlicht, fast schäbig. Der kompakte, flache Bau sah aus, als hätte man ihn lieblos zusammengezimmert. Dieser Eindruck sollte wohl durch das verwilderte Dickicht, das um den Pavillon herum wucherte, kaschiert werden. Der Eingang lag im Schatten, die Klingel war kaputt.
    »Welche Schuhgröße haben Sie?«
    So lautete die erste Frage des Professors, nachdem ich mich ihm als seine neue Haushälterin vorgestellt hatte. Nach meinem Namen erkundigte er sich nicht. Kein Grußwort, keine Verbeugung. Als Haushälterin hielt ich mich an die Grundregel, auf Fragen meines Arbeitgebers niemals eine Gegenfrage zu stellen, und antwortete deshalb gehorsam: »Größe 24.«
    »Oh, eine würdevolle Zahl! Sie besitzt die Fakultät 4.«
    Der Professor verschränkte seine Arme, schloss die Augen und verharrte schweigend.
    »Was ist denn eine Fakultät?« fragte ich unsicher.
    Vermutlich war es klug, auf das Thema einzugehen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, weshalb sich mein neuer Arbeitgeber so für meine Schuhgröße interessierte.
    »Wenn man sämtliche natürlichen Zahlen von 1 bis 4 miteinander multipliziert, ergibt das 24«, erwiderte der Professor, ohne die Augen zu öffnen.
    »Wie lautet Ihre Telefonnummer?«
    »576-1455.«
    »5761455, sagen Sie? Ist das nicht zauberhaft? Das entspricht der Anzahl sämtlicher Primzahlen zwischen 1 und 100.000.000.« Er nickte, offenbar zutiefst beeindruckt.
    Ich wusste zwar nicht, was an meiner Telefonnummer zauberhaft sein sollte, aber seine Stimme klang warmherzig. Er vermittelte nicht den Eindruck, als würde er mit seinem Wissen prahlen wollen. Ganz im Gegenteil, er gab sich aufrichtig und bescheiden. Das erweckte in mir die angenehme Vorstellung, dass meine Telefonnummer vielleicht wirklich bedeutungsvoll war und somit Einfluss auf mein eigenes Geschick hatte.
    Erst später, nachdem ich die Stelle als Haushälterin bei ihm angenommen hatte, begriff ich, dass es eine Marotte des Professors war, über Zahlen zu reden, wenn er nicht wusste, worüber er sich mit seinem Gegenüber unterhalten sollte.
    Es war seine ausgetüftelte Methode, mit Menschen zu kommunizieren. Zahlen waren für ihn eine Geste, dem anderen die Hand zu reichen, und zugleich ein Mantel, der ihm Schutz bot. Ein Mantel so dick und schwer, dass er unantastbar blieb und niemand ihn bloßstellen konnte. So konnte er sich in seinen eigenen Kokon zurückziehen.
    Bis zu meinem letzten Arbeitstag bei ihm wiederholte sich unser Zahlenritual Tag für Tag an seiner Eingangstür. Für den Professor, dessen Gedächtnis nach achtzig Minuten erlosch, war ich stets eine neue Angestellte, der er wie beim ersten Mal mit großer Zurückhaltung begegnete. Wenn er sich nicht nach meiner Schuhgröße oder Telefonnummer erkundigte, wollte er meine Postleitzahl wissen, die Registriernummer meines Fahrrads oder die Anzahl der Striche in den Schriftzeichen meines Namens. Und immer endete es damit, dass er jeder Ziffer eine Bedeutung beimaß. Dabei hatte man nicht den Eindruck, dass er sich dafür besonders anstrengen musste. Die sogenannten Fakultäten und Primzahlen sprudelten scheinbar mühelos aus ihm heraus.
    Auch später, als er mir nach und nach die Struktur der Fakultäten, Primzahlen und anderen mathematischen Größen erklärte, bereitete mir das Frage-und-Antwortspiel Freude. Es gab mir immer wieder aufs Neue die Gewissheit, dass meine Telefonnummer noch eine andere Bedeutung besaß, und allein das half mir, meine tägliche Arbeit
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