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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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Geburtstag ist im zweiten Monat, und zwar am 20. Das ergibt 220. Eine äußerst faszinierende Zahl. Hier, schauen Sie! Dies ist der Preis des Dekans, den ich auf der Hochschule für meine Abhandlung über transzendente Zahlen gewonnen habe.«
    Der Professor löste seine Armbanduhr und hielt sie mir direkt vors Gesicht. Es war ein luxuriöses ausländisches Modell, das so gar nicht zu ihm passte.
    »Das ist aber ein schöner Preis.«
    »Ach, eigentlich lege ich keinen Wert darauf. Können Sie die eingravierten Zahlen lesen?«
    Auf der Rückseite des Gehäuses war die Inschrift
Preis des Dekans Nr. 284
zu lesen.
    »Soll die Zahl bedeuten, dass es sich um die zweihundertvierundachtzigste Preisverleihung handelte?«
    »Wahrscheinlich, aber das Spannende daran ist die Zahl selbst. Machen Sie doch eine kurze Pause. Sagen Ihnen die beiden Zahlen 220 und 284 nichts?«
    Der Professor zog mich an der Schürze zum Esstisch hinüber und ließ mich dort Platz nehmen. Dann holte er einen Bleistiftstummel aus der Innentasche seines Jacketts und schrieb auf die Rückseite eines gefalteten Werbeprospekts die beiden Zahlen auf:

    Sie hielten einen merkwürdigen Abstand zueinander.
    »Was fällt Ihnen dazu ein?«
    Während ich meine nassen Hände an der Schürze abwischte, spürte ich, dass sich etwas Unangenehmes anbahnte. Ich wollte den Erwartungen des Professors gerne entsprechen, aber so sehr ich auch nachdachte, mir fiel keine gescheite Antwort ein, die das Herz eines Mathematikers erfreuen konnte. Für mich waren es einfach nur Zahlen.
    »Nun ja, man könnte sagen«, sagte ich zaghaft, »dass beides dreistellige Zahlen sind. Und dass sie sich ähneln. Hm … ich meine, so großartig ist der Unterschied zwischen ihnen natürlich nicht. Wenn ich zum Beispiel im Supermarkt an der Fleischtheke ein Paket Gehacktes nehme, das 220 Gramm wiegt, oder eines mit 284 Gramm, dann ist das für mich in etwa das Gleiche. Ich würde eher darauf achten, welches das frischere ist. Rein äußerlich betrachtet, machen sie den gleichen Eindruck. Beide haben drei Ziffern und … na ja … und alle Ziffern, aus denen sie bestehen, sind gerade.«
    »Gut beobachtet!« lobte der Professor und wedelte mit der Armbanduhr herum. Ich war perplex.
    »Was zählt, ist die Intuition. Wie ein Eisvogel, der jäh in den Fluss hinabtaucht, wenn nur kurz eine Rückenflosse aufblitzt. So muss man auch die Zahlen erfassen.«
    Der Professor nahm sich einen Stuhl, als wollte er dichter an die Zahlen heranrücken. Er roch ebenso nach Papier wie sein Arbeitszimmer.
    »Sie wissen, was ein Teiler ist, oder?«
    »Hm … ich glaube, das haben wir mal in der Schule gelernt.«
    »220 ist durch 1 teilbar und durch sich selbst, also 220. Dabei bleibt kein Rest. Deshalb sind 1 und 220 die Teiler von 220. Alle natürlichen Zahlen haben demnach 1 und sich selbst als Teiler. Aber durch was könnte man 220 noch teilen?«
    »Durch 2 … oder durch 10.«
    »Genau. Lassen Sie uns alle weiteren Teiler von 220 und 284 notieren, außer die Zahlen selbst. Passen Sie auf …«

    Die Ziffern, die der Professor aufgeschrieben hatte, waren alle rundlich, neigten sich zur Seite und waren wegen der weichen Bleistiftmine ein wenig verschmiert.
    »Haben Sie all diese Teiler im Kopf ausgerechnet?«
    »Nein, ich habe nicht gerechnet, sondern genau wie Sie vorhin meine Intuition benutzt. Kommen wir zum nächsten Schritt.«
    Der Professor fügte nun Symbole dazwischen:

    »Nun zählen Sie es zusammen. Lassen Sie sich ruhig Zeit! Es besteht keine Eile.«
    Er gab mir den Bleistift und ich addierte die Zahlen dort, wo auf dem Prospekt noch Platz frei war. Seine Stimme war erwartungsvoll und freundlich, sodass ich nicht das Gefühl hatte, er wolle mich testen. Ganz im Gegenteil, meine Beklommenheit von vorhin war verflogen. Mir war, als wäre mir eine Mission aufgetragen worden, als hinge allein von mir ab, zur richtigen Lösung zu gelangen.
    Ich prüfte meine Addition drei Mal, um sicher zu sein, dass ich mich nicht verrechnet hatte. Inzwischen war der Tag zu Ende gegangen und die Nacht brach herein. Ab und zu hörte ich einen Wassertropfen, der vom abgewaschenen Geschirr in die Spüle fiel. Der Professor stand dicht neben mir und schaute mir aufmerksam zu.
    »So, geschafft«, sagte ich.

    »Richtig! Schauen Sie sich diese herrliche Zahlenfolge an! Die Summe der Teiler von 220 – außer der Zahl selbst – beträgt 284. Und die Summe der Teiler von 284 ist 220. Das sind befreundete Zahlen. Sie kommen
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