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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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sein Erinnerungsvermögen 1975 endete: Was bedeutete dann
gestern
für ihn? Ich hatte keine Ahnung, ob er bis zum nächsten Tag vorausplanen konnte und wie sehr er unter dieser Einschränkung litt.
    Mir war klar, dass er mich von einem Tag zum anderen wieder vergaß. Der Zettel mit meinem Porträt wies ihn allenfalls darauf hin, dass wir uns schon einmal begegnet waren. Die Erinnerung an die gemeinsam verbrachte Zeit konnte er allerdings nicht zurückholen.
    Wenn ich Besorgungen machen musste, richtete ich es so ein, dass ich innerhalb von einer Stunde und zwanzig Minuten wieder zurück war. Wie es sich für einen Mathematiker geziemte, war die Taktung von achtzig Minuten in seinem Gehirn genauer als eine Uhr. Wenn ich mich von ihm verabschiedete und nach einer Stunde und achtzehn Minuten wieder heimkehrte, wurde ich herzlich begrüßt, waren es eine Stunde und zweiundzwanzig Minuten, dann war das Erste, was ich zu hören bekam: »Was für eine Schuhgröße haben Sie?«
    Ich war stets besorgt, dass mir nicht eine unachtsame Bemerkung herausrutschte. Als ich ihm erzählen wollte, dass ich heute Morgen etwas über Premierminister Miyazaki in der Zeitung gelesen hatte, musste ich mir schnell auf die Zunge beißen, denn für den Professor war natürlich immer noch Takeo Miki Staatsoberhaupt. Ein schlechtes Gewissen überkam mich auch, wenn ich unbedacht dazu riet, sich bis zu den Olympischen Spielen in Barcelona ein Fernsehgerät anzuschaffen. Für ihn war der letzte Austragungsort München gewesen.
    Der Professor ließ sich jedoch nichts anmerken. Wenn das Gespräch in eine Richtung verlief, der er nicht folgen konnte, wurde er nicht böse, sondern wartete geduldig den Moment ab, bis er selbst wieder etwas dazu sagen konnte. Allerdings fragte er mich nie nach persönlichen Dingen. Nie wollte er wissen, wie lange ich schon als Haushälterin arbeitete, woher ich käme oder ob ich eine Familie hätte. Vielleicht hatte er nur Angst, mir auf die Nerven zu gehen, indem er immer wieder die gleichen Fragen stellte.
    Die Mathematik war das einzige Thema, über das wir unbekümmert reden konnten. Eigentlich war mir dieses Fach in der Schule immer verhasst gewesen, allein der Anblick eines Mathebuchs verursachte mir schon Übelkeit. Aber die Erklärungen, die ich aus dem Munde des Professors hörte, fanden mühelos ihren Weg in meinen Kopf. Nicht etwa, weil ich als Hausangestellte meinem Arbeitgeber schmeicheln wollte, sondern seine Art zu unterrichten war einfach bemerkenswert. Wenn er es mit Formeln zu tun hatte, zeigte allein schon das Funkeln in seinen Augen von seiner tiefen Hingabe.
    Es war natürlich nicht unwesentlich, dass ich angesichts seiner Vergesslichkeit ganz ungeniert mehrmals dieselbe Frage stellen konnte. Bis ich etwas begriff, was andere vielleicht schon beim ersten Mal verstanden, musste man es mir fünf oder sogar zehn Mal erklären.
    »Derjenige, der die befreundeten Zahlen entdeckt hat, war bestimmt ein Genie.«
    »Das ist wohl wahr. Es war Pythagoras, im 6. Jahrhundert vor Christus.«
    »Wie? Gab es denn damals schon Zahlen?«
    »Aber natürlich! Glauben Sie etwa, die wären erst im 19. Jahrhundert aufgetaucht? Zahlen gab es bereits vor der Geburt der Menschen. Nein, eigentlich noch eher, vor der Entstehung des Weltalls.«
    Unsere Gespräche fanden stets in der Wohnküche statt. Der Professor saß entweder am Esstisch oder in seinem Sessel, während ich am Herd stand und in einem Topf rührte oder das Geschirr spülte.
    »Ich dachte immer, Zahlen wären eine Erfindung des Menschen.«
    »Nein, ganz und gar nicht! Wenn dem so wäre, bräuchte man sich ja nicht so abzumühen, um sie zu verstehen, und es bedürfte auch keiner Mathematiker. Niemand kann bezeugen, wie und wann Zahlen entstanden sind. Sie existierten schon lange, bevor sie von uns wahrgenommen wurden.«
    »Ach so, deshalb nehmen kluge Menschen ihren ganzen Verstand zusammen, um das System der Zahlen zu ergründen.«
    »Ja, obwohl wir Menschen eigentlich ziemlich dumm sind, verglichen mit dem Schöpfer der Zahlen.«
    Der Professor schüttelte bedauernd den Kopf und machte es sich in seinem Sessel bequem, um in einer Zeitschrift zu lesen.
    »Mit leerem Magen wird man aber auch nicht klüger. Man muss gut essen, damit die Nährstoffe auch in die Hirnzellen gelangen. Noch ein klein wenig Geduld, es ist gleich fertig.«
    Ich rieb die Karotten klein und vermischte sie mit dem Hackfleisch für die Fleischbällchen. Dann warf ich die Schalen heimlich in
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