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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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den Müll, damit der Professor sie nicht entdeckte.
    »Übrigens habe ich die letzten Abende versucht, neben der 220 und der 284 ein weiteres Paar befreundeter Zahlen zu finden, aber es ist mir nicht gelungen.«
    »Das nächste Paar bilden dann erst 1184 und 1210.«
    »Vierstellige Zahlen? Na, dann ist es ja kein Wunder, dass ich keinen Erfolg hatte. Ich habe sogar meinen Sohn gebeten, mir zu helfen. Die Teiler zu ermitteln ist natürlich noch zu schwer für ihn, aber er kann sie addieren.«
    »Wie, Sie haben einen Sohn?« rief der Professor verwundert und setzte sich im Sessel auf. Seine Zeitschrift glitt zu Boden.
    »Ja …«
    »Wie alt ist er?«
    »Zehn.«
    »Zehn, sagen Sie? Dann ist er ja noch ein kleiner Junge!«
    Die Miene des Professors verdüsterte sich merklich. Ich hielt inne mit dem Kneten des Hackfleischs und erwartete gespannt, nun eine Lektion über die Zahl 10 zu hören.
    »Und was macht Ihr Sohn gerade?«
    »Um diese Zeit dürfte er bereits aus der Schule zurück sein. Bestimmt hat er seine Hausaufgaben noch nicht erledigt und treibt sich irgendwo draußen rum. Er wird wohl mit seinen Freunden im Park Baseball spielen, nehme ich an.«
    »Wie können Sie nur so gleichgültig sein. Es wird doch bereits dunkel draußen.«
    Ich hatte mich getäuscht. Er machte keine Anstalten, mich in das Geheimnis der Zahl 10 einzuweihen. In diesem Fall war die 10 einfach nur das Alter eines Jungen.«
    »Keine Sorge, das macht er jeden Tag. Er ist daran gewöhnt.«
    »Jeden Tag? Heißt das, Sie lassen Ihren Sohn im Stich, um hier bei mir Fleischbällchen zu kneten?«
    »Ich lasse ihn nicht in Stich. Nur, das hier ist mein Beruf …«
    Ich hatte keine Ahnung, weshalb der Professor sich derart um mein Kind sorgte. Nachdenklich streute ich etwas Pfeffer und Muskatnuss in die Schüssel.
    »Und wer kümmert sich um ihn, wenn Sie nicht da sind? Kommt Ihr Mann denn eher von der Arbeit nach Hause? Oder passt seine Großmutter auf ihn auf?«
    »Nein, leider gibt es weder Vater noch Großmutter. Ich lebe mit meinem Sohn allein.«
    »Soll das etwa heißen, dass Ihr Sohn einsam zu Hause sitzt? Mit knurrendem Magen wartet er auf seine Mutter, die fremden Leuten das Abendessen zubereitet? Also wirklich! Das kann doch nicht wahr sein!«
    Der Professor konnte seine Erregung nicht länger im Zaum halten und sprang auf. Mit raschelnden Zetteln lief er um den Tisch und raufte sich die Haare. Die Dielen knarzten. Ich stellte das Gas ab, da die Suppe heiß genug war.
    »Darüber müssen Sie sich doch keine Sorgen machen.«
    Ich versuchte, möglichst gelassen zu klingen.
    »Wir haben das auch schon so gehandhabt, als er noch kleiner war. Jetzt mit zehn kann er gut für sich selbst sorgen. Ich habe ihm die Telefonnummer von hier gegeben, und der Vermieter, der unter uns wohnt, hat mir versprochen, ihm behilflich zu sein, falls es ein Problem gibt.«
    »Nein, nein, nein!« unterbrach mich der Professor und ging immer schneller um den Tisch herum.
    »Man darf ein Kind niemals unbeaufsichtigt lassen! Was, wenn der Ofen umkippt und ein Feuer ausbricht? Oder ihm ein Bonbon im Hals stecken bleibt und keiner zu Hilfe eilt? Ich darf gar nicht daran denken! Kehren Sie sofort heim! Eine Mutter sollte auf ihr Kind aufpassen. Los, gehen Sie nach Hause!«
    Er griff meinen Arm und zerrte mich zur Eingangstür.
    »Einen Moment!« rief ich. »Ich muss noch die Fleischbällchen braten.«
    »Was fällt Ihnen ein! Sie stehen hier und reden über Fleischbällchen, während Ihr Kind vielleicht gerade in den Flammen umkommt? Hören Sie, ab morgen bringen Sie Ihren Sohn mit. Er kann direkt von der Schule aus herkommen. Wenn er seine Hausaufgaben hier erledigt, kann er die ganze Zeit bei seiner Mutter bleiben. Und bilden Sie sich bloß nicht ein, ich hätte das morgen wieder vergessen. Unterschätzen Sie mich nicht! Ich werde mich daran erinnern, also halten Sie sich daran!«
    Er löste den Zettel mit der Notiz
Neue Haushälterin
von seinem Ärmel, holte einen Bleistift aus der Jackentasche und schrieb neben mein Bild
und ihr zehnjähriger Sohn
.
    An diesem Abend verließ ich sein Haus, ohne Zeit gehabt zu haben, mir die Hände zu waschen, geschweige denn die Küche aufzuräumen. Er hatte diesmal noch heftiger reagiert als vor wenigen Tagen, als ich ihn bei der Arbeit gestört hatte. Da hinter seinem Zorn jedoch Angst steckte, war dieser Wutanfall für mich noch beunruhigender. Ich lief nach Hause und fragte mich, was ich tun sollte, wenn meine Wohnung tatsächlich
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