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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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Unterstützung seiner Schwägerin angewiesen.
    »Die alte Dame kann einem leidtun. Mit ihrem verschrobenen Schwager, der sich wie ein Parasit durch das Erbe ihres Mannes frisst.« Das vertraute mir meine Vorgängerin an, eine sehr erfahrene Haushaltshilfe. Sie hatte sich über die Zahlenattacken des Professors beklagt und war nach einer Woche entlassen worden.
    Im Inneren wirkte der Gartenpavillon genauso trostlos wie von außen. Es gab lediglich zwei Räume: eine Essküche und das Arbeitszimmer, in dem der Professor auch schlief. Die Räume waren schäbig eingerichtet, an der Wand hingen ausgeblichene Tapeten und die Fußbodendielen im Flur knarrten bedrohlich. Es war nicht bloß die Türklingel, fast alles in diesem Haushalt funktionierte nicht. Die Scheibe der Fensterluke im Badezimmer war zerbrochen, der Knauf der Küchentür fehlte und das Radio auf der Anrichte gab keinen Laut von sich, wenn man auf die Tasten drückte.
    In den ersten beiden Wochen war die Arbeit sehr anstrengend, da ich nicht wusste, wie ich vorgehen sollte. Obwohl ich keineswegs körperlich schwere Arbeit zu verrichten hatte, waren meine Muskeln am Abend völlig verspannt und meine Glieder bleischwer. Bei jeder neuen Anstellung ist es anfangs sehr mühevoll, bis man den richtigen Arbeitsrhythmus findet, aber diesmal war alles schwieriger als sonst. In der Regel konnte ich von den Anweisungen meiner Arbeitgeber auf deren Charakter schließen, ich wusste, auf was ich zu achten hatte, wie ich Konflikte vermeiden konnte und welche Anforderungen an mich gestellt wurden. Doch der Professor verlangte nichts von mir. Er nahm mich einfach nicht zur Kenntnis, so als wäre es sein sehnlichster Wunsch, dass ich mich überhaupt nicht rührte.
    Am ersten Arbeitstag besann ich mich auf die Worte der alten Dame, dass ich in erster Linie die Mahlzeiten für den Professor zubereiten sollte. Im Kühlschrank gab es wie zu erwarten überhaupt nichts Essbares, und als ich den Küchenschrank inspizierte, fand ich lediglich eine Packung mit feuchten Haferflocken und Nudeln, deren Haltbarkeitsdatum vor vier Jahren abgelaufen war.
    Ich klopfte an die Tür seines Arbeitszimmers. Als ich keine Antwort erhielt, klopfte ich abermals. Wieder keine Reaktion. Unaufgefordert betrat ich schließlich den Raum und sprach den Professor, der am Schreibtisch saß und mir den Rücken zuwandte, an.
    »Verzeihung, dass ich Sie bei der Arbeit störe.«
    Er blieb reglos sitzen. War er schwerhörig oder hatte er sich Stöpsel in die Ohren gesteckt? Ich trat näher.
    »Was möchten Sie zu Mittag essen? Haben Sie ein Lieblingsgericht oder etwas, dass Sie gar nicht mögen? Sind Sie gegen irgendetwas allergisch? Es wäre hilfreich, wenn Sie mir darüber Auskunft geben könnten …«
    Es roch nach Papier. Die Luft im Zimmer war abgestanden, vermutlich konnte man nicht ordentlich lüften, da die Hälfte des Fensters mit Regalen zugebaut war. Alle Bücher, die nicht mehr in die Fächer passten, waren auf dem Boden aufgestapelt. An der Wand stand ein Bett mit einer durchgelegenen Matratze. Auf dem Schreibtisch lag lediglich ein aufgeschlagenes Notizheft. Es gab weder einen Computer, noch hatte der Professor irgendeinen Stift in der Hand. Er starrte abwesend in die Luft.
    »Wenn Sie keine besonderen Wünsche haben, dann koche ich Ihnen einfach irgendetwas, ja? Sollte Ihnen noch etwas einfallen, können Sie es mir ja sagen.«
    Mein Blick fiel auf einige der Zettel, die an seinem Anzug hingen.
Der Fehler der analytischen Methode … Hilberts 13. Problem … Die Lösung elliptischer Kurven

    Inmitten all der rätselhaften Zahlen, Zeichen und Wörter gab es eine Notiz, die auch ich verstand. Von den Flecken und der angerosteten Klammern her zu urteilen, befand sich der Zettel offenbar schon sehr lange in seiner Sammlung.
    Meine Erinnerung dauert nur 80 Minuten
, stand dort geschrieben.
    »Ich habe nichts zu sagen!« brüllte der Professor plötzlich und drehte sich zu mir um.
    »Ich denke gerade nach. Und wenn ich nachdenke, ist jede Art von Störung eine Qual, als würde man mir an die Gurgel gehen. Ist Ihnen klar, wie unhöflich es ist, hier so hereinzuplatzen, wenn ich mich meinen geliebten Zahlen widme? Das ist schlimmer, als jemanden auf der Toilette zu belästigen.«
    Völlig betreten entschuldigte ich mich, aber meine Worte schienen ihn nicht zu erreichen. Er war mit seinen Gedanken bereits woanders.
    Gleich am ersten Tag derart kritisiert zu werden, ohne überhaupt mit der Arbeit
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