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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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Tonis Haare gehabt, wäre über das hinausgegangen, was sich auf die Entfernung mit Sicherheit sagen ließ: im Grunde wenig bis gar nichts. Ich erschrak, als Toni sich dem Jungen zuwandte. Wenn er sich zu ihm hinunterbeugte, konnte es vielleicht geschehen, dass er mich aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm. Einem ersten Impuls folgend wollte ich mich davonmachen. Ich ging ein paar Schritte zur Seite, blieb dann jedoch stehen. Es war damals notwendig gewesen, den Kontakt zu Toni abzubrechen. Es gab jedoch keinen Grund, in diesem Augenblick vor ihm davonzulaufen. Die Jahre im Gymnasium waren an mir vorübergezogen wie ein Kinofilm, dessen Abspann man sich sparte, um den dunklen Saal zu verlassen und ins Freie zu gelangen. Das Jahr, in dem ich mit Toni in einer Wohnung gelebt hatte, war ein Film, für den ich kein Abspielgerät benötigte, da er immer wieder in meiner Erinnerung ablief – auch wenn es hie und da einen Riss gab und sich nur noch einige markante Szenen erhalten hatten, zwischen denen meine Phantasie eine Verbindung herzustellen versuchte. So war es nur einleuchtend, dass ich dem Maturajubiläum ferngeblieben war, während ich nun über die Straße ging und neugierig darauf war, Tonis Geschichte zu hören. Ob er überhaupt Lust dazu hatte, sie mir zu erzählen, und umgekehrt an der meinen interessiert war, ließ ich außer Acht.
    Als ich über die Straße ging, musste ich schmunzeln bei der Vorstellung, gleich Toni die Hand zu geben. Es kam immer wieder vor, dass ein Mann und eine Frau, die einmal ein Liebespaar gewesen waren, einander Jahre später gegenüberstanden, wobei einer von beiden verheiratet war oder ein Kind an der Hand führte. Das kurze Gespräch, das sich daraus ergab, hatte – warum auch immer – oft etwas Verkrampftes, das von den Unverbindlichkeiten, die ausgetauscht wurden, unterstrichen wurde. Ich stellte mir vor, dass es Toni vielleicht ein bisschen peinlich war, mir als treusorgender Familienvater zu begegnen.
    Ich hätte es besser wissen müssen: Weder war Toni Vater, noch war ihm etwas peinlich. Er war seit einiger Zeit mit einer Frau zusammen, die geschieden war und zwei Kinder hatte. Sie lebte in einem Haus mit großem Garten und Swimmingpool in einem Vorort, wie er mir auf dem Weg zum Bus in einem Tonfall erzählte, der nahelegte, dass er Gefallen gefunden hatte an einer gewissen Bequemlichkeit und Sicherheit, die so eine familiäre Konstellation bot. Gemessen an der kurzen Strecke, die wir bis zur Haltestelle zurücklegten, redete er überhaupt viel. Er fand sogar Zeit, auf die Fragen des Jungen einzugehen, der sich jedoch nicht für mich, sondern ausschließlich für die Ausstattung der Notebooks interessierte.
    Warum war Toni so mitteilsam, so bemüht, mir in der kurzen Zeit einen aussagekräftigen Einblick in sein Leben zu geben? Er, der mir noch im Exzess oft wie ein Betrachter vorgekommen war, dem das, was ablief, zu einem Hintergrundgeräusch wurde, einem Ereignis auf einem Bildschirm, der rund um die Uhr angeschaltet war.
    Und was er erzählte! Er arbeitete seit einiger Zeit im Außendienst bei einem Sportartikelhersteller. Es war unmöglich, mir vorzustellen, wie er die Besitzer von Fitnessstudios davon zu überzeugen versuchte, ihre Räumlichkeiten mit den Geräten seiner Firma auszustatten. Oder wie er den Vorstand eines kleinen Fußballvereins dazu brachte, sich eine neue Ausrüstung zuzulegen – Schuhe, Dressen, Trainingsanzüge, Taschen –, auf denen das Logo seiner Firma prangte. Als spürte er meinen Zweifel, erklärte er mir, dass es wesentlich besser war, als im Innendienst zu versauern, täglich umgeben von denselben Büromenschen mit denselben Büromacken. Er liebte es, allein im Firmenwagen herumzufahren, immer wieder auf neue Gesichter zu treffen und bei Erfüllung einer festgesetzten Quote in gewisser Weise sein eigener Herr zu sein. Die Firma war eine Weltmarke, er war zuständig für den Bereich der Trendsportarten, denen er selbst frönte: Snowboarden, Inlineskaten, Mountainbiken. Er hatte – so empfand er es – sein Hobby zum Beruf gemacht, was seiner Meinung nach mehr war, als die meisten von sich behaupten konnten. Das Einzige, das ihm dabei auf die Nerven ging, war das Leben aus dem Koffer, das Dasein in immer gleichen, sterilen Dreieinhalb- bis Vier-Sterne-Hotels, das es mit sich brachte, dass er seine Freundin selten sah. Sie hatte sich schon einmal beschwert und ihm nahegelegt, er solle in den Innendienst wechseln, was für ihn jedoch – bei
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