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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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das.«
    Wir sind gerade erst aus dem Haus gegangen, haben uns ein paar Schritte von der Tür wegbewegt, da ist die Aufbruchsstimmung, die meine Mutter vor einer halben Stunde erfasst hat, schon Vergangenheit, und sie ist wieder der Überzeugung, dass alles nur noch schlimmer wird, als es ohnehin schon ist. Halb kokettiert sie damit, halb glaubt sie wirklich daran.
    »Ich werde hinfallen und mir den Fuß brechen. Das kann in meinem Alter eine schlimme Angelegenheit sein. Da wachsen die Knochen nicht mehr so gut zusammen. Aber ich bin ja selbst schuld, dass ich mich von dir zu so was überreden lasse.«
    Sie setzt vorsichtig einen Schritt vor den anderen und blickt dabei zu Boden. Obwohl an diesem Morgen reichlich Schotter gestreut worden ist, verhält sie sich so, als rechnete sie damit, dass die Eisschicht darunter tückisch genug sei – wenn nicht gar ihr persönlich übelgesinnt –, sodass sie hinfallen würde, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Dabei ist es in den letzten Tagen deutlich wärmer geworden. Die Sonne hat den grauen Pyjama der Wolken abgestreift und damit nicht zuletzt dafür gesorgt, dass das lange Zeit mit dem Beton wie verwachsene Eis weicher und die Gefahr geringer wird, dass man darauf ausrutscht. Eine Folge davon ist, dass man wieder mehr Menschen auf der Straße sieht, alte zumal, und die Schritte allgemein wieder ausholender werden, sicherer. Auch in den Gesichtern sprießen erste Knospen des Frühlings, dessen Auftritt nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt, selbst wenn der Winter sich noch mal ins Zeug legen und einen starken Abgang schaffen sollte. Der Glaube macht sich breit, dass bald Schluss damit sein wird, den ganzen Tag die Zentralheizung laufen zu lassen und sich – sobald man das Haus verlässt – in einen beweglichen Kleiderberg zu verwandeln, der an anderen Kleiderbergen stocksteif und blicklos vorüberzieht.
    Ich habe sie zu einem Spaziergang überredet, in der Hoffnung, dass sich mit der Sonne auch ihr Gemüt aufhellt. Außerdem raucht sie während eines Ausflugs an der frischen Luft nicht, sie verschwendet – wie sie sagt – keinen Gedanken daran. Vielleicht wäre für sie, die auf dem Bauernhof ihrer Eltern groß geworden ist, ein Beruf in freier Natur ja besser gewesen.
    »Genau! Landschaftsgärtnerin, das wär’s«, sagt sie. »Aber meine Freude an Pflanzen und mein Geschick dafür hab ich zu spät entdeckt, als dass ich meiner beruflichen Laufbahn noch mal eine Wendung hätte geben können. Als ich jung war, hab ich von einem Job im Büro geträumt, der um halb neun beginnt und um fünf zu Ende ist. Bäuerin sein? Ums Verrecken nicht!«
    Wir entscheiden uns dafür, auf einen der Stadtberge zu gehen. Als ich meine Mutter frage, ob das nicht ein bisschen viel für sie ist, vor allem der steile Anstieg, und wir nicht doch lieber ins nahe gelegene Moor gehen sollen, ist sie kurz gekränkt.
    »Dass ich alt werde und mein Fleisch und meine Muskeln schlaff, weiß ich selbst. Danke. Aber die Strecke schaff ich gerade noch, ohne gleich zu kollabieren.«
    Wir schlendern denselben Weg entlang, auf dem ich als Schüler immer ins Gymnasium gegangen bin.
    »Und?«
    Gehen wir diesen Weg entlang, stellt mir meine Mutter immer diese Frage. Ich bin mir nicht sicher, worauf sie damit hinauswill. Vielleicht will sie ja Erinnerungen an eine glückliche Schulzeit in mir wachrufen, von denen sie im Grunde weiß, dass es sie nicht gibt. Genauso wenig, wie es besonders schreckliche oder demütigende Erinnerungen gibt. Die Schulzeit kommt mir vor, als hätte ich als Proband an einer Versuchsreihe mitgewirkt, deren ungewöhnliche Dauer es mit sich brachte, dass man die gegebene Laborsituation irgendwann mit dem Leben verwechselte. Spätestens als ich mit dem Abschlusszeugnis in der Hand das Schulgebäude verließ, war es mit dieser Verwechslung vorbei, und ich verschwendete kaum einmal mehr einen Gedanken an meine Schulzeit oder daran, was aus meinen Klassenkameraden geworden war. Vielleicht ändert sich das ja, wenn ich älter werde. Wenn ich eine Biografie lese, bin ich immer wieder überrascht, wie viel Augenmerk die Person, um die es geht, ihrer Schulzeit widmet, den Freunden ebenso wie den Lehrern und der Art und Weise, wie sie den Unterricht gestalteten. Ganz so, als läge darin einer der Schlüssel zur Erschließung nicht nur ihrer Karriere, sondern ihres Lebens – was mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt absurd erscheint. Vielleicht fehlt mir zu einem fundierten Urteil aber auch
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