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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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der Überblick. Schließlich ist man derart in sein Leben verstrickt, dass man die einzelnen Stränge ebenso wenig erkennen kann wie das Muster, das sich gebildet hat.
    »Mein Gott, war das immer ein Kampf mit dir in der Früh. Ich war mit den Nerven schon fertig, bevor ich ins Büro kam. Irgendwann hab ich mir gesagt, du bist jetzt alt genug, um zu wissen, was du tust und was für Folgen das für dich hat.« Sie lacht verschmitzt. »Einmal hat sich dein Klassenvorstand mit verschränkten Armen vor mich hingestellt und mich gefragt, wie ich denn dabei zuschauen könnte, dass du die Schule schwänzt und dir selbst auch noch die Entschuldigungen dafür ausstellst. Wie ich ihm dann erzählt hab, dass es dir wirklich immer schlecht geht in der Früh, du oft Kopfweh hast, da war er ganz perplex und hat in dem Moment selber nicht mehr gewusst, was wahr ist und was falsch.« Sie legt eine kleine dramatische Pause zwischen diesen Satz und den nächsten. »Ich habe für dich gelogen, mein Lieber.«
    »Brav.« Diesmal ist es an mir, eine dramatische Pause einzulegen. Ich weiß natürlich, dass meine Mutter – in ironischer Anspielung auf den liebgewonnenen Ablauf unserer Auseinandersetzungen – darauf wartet. »Obwohl das natürlich nicht ganz der Wahrheit entspricht.«
    »Ach ja? Und wie sieht die Wahrheit aus, Herr Magister?«
    »Dass du ebenso sehr für mich gelogen hast wie für dich.«
    »Was soll ich denn davon gehabt haben?«
    »Es hätte für den Klassenvorstand sonst so aussehen können, als ob du ein bisschen eine Rabenmutter bist, die sich zu wenig um ihren Sohn kümmert und der es egal ist, was aus ihm wird.«
    »Wenn es mir egal gewesen wäre, warum hätte ich dich dann ins beste Gymnasium der Stadt gegeben?«
    »Aus Prestigegründen. Aus demselben Grund, warum du einen Fuchspelzmantel trägst, denke ich.«
    Sie tut so, als hätte sie meinen Einwurf nicht gehört, aber ich weiß, dass ich damit einen Nerv bei ihr getroffen habe – und sie weiß, dass ich es weiß. Immer wieder kommt es im Laufe unserer Gespräche wie bei einem Tennismatch zu einem Hin und Her auf dem Aschenplatz unserer Gefühle, bei dem einmal sie einen Satz gewinnt, dann wieder ich. Wir sind wie zwei Tennisspieler, die die Stärken und Schwächen des anderen ausgiebig studiert haben und sich seit Jahren umkämpfte Duelle liefern.
    Sie versucht, dem Spielverlauf eine für sie typische Wendung zu geben. »Das beste Gymnasium, die besten Voraussetzungen. Und was hast du daraus gemacht?«
    »Nichts, das zu einem Fuchspelzmantel führt, nehme ich an.«
    »Ja. Leider.« Wir müssen beide lachen. Das Leben ist wie eine Wüste, denke ich, voller Möglichkeiten, die unter der verbrannten, krustigen Oberfläche mit unmenschlicher Geduld auf den nächsten Regen warten.
    Die Sonne scheint, und doch ist unser Weg bewölkt. Was nicht einmal an unserem Wortgefecht liegt, das gehört inzwischen zu uns wie eine Vorliebe für einen bestimmten Duft oder ein bestimmtes Getränk. Oder wie meine Gewohnheit, beim Kaffee- und Teetrinken den kleinen Finger und den Ringfinger der rechten Hand vom Henkel der Tasse abzuspreizen. Es liegt vielmehr an der Umgebung. Es gibt einst vertraute Straßen und Wege, auf die man nach langer Zeit gern wieder einmal seinen Fuß setzt, weil man neugierig ist, wie sie sich in der Zwischenzeit verändert haben oder welche Gefühle und Erinnerungen sie hervorrufen. Gleich, wie die Konfrontation mit der Wirklichkeit auch ausfällt: Es herrscht eine vielleicht nicht frohe, so doch angespannte Erwartung. Als ich meinen alten Schulweg entlanggehe, um kurz vor der Schule in Richtung Stadtmitte abzubiegen, empfinde ich rein gar nichts. Keinen Widerwillen, keine Freude. Das Einzige, das mir dabei einfällt, ist, dass ich gerne einen Kaugummi hätte, auf dem ich herumkauen und mir die Zeit vertreiben könnte.
    »Hast du einen Kaugummi?«, frage ich meine Mutter.
    »Nein, aber ein Lutschbonbon.« Ich schüttle kurz den Kopf, sie insistiert. »Es ist ein Multivitamin-Lutschbonbon. Du isst ohnehin viel zu wenig Obst und Gemüse. Da tun dir ein paar Vitamine gut.«
    Wir überqueren einen Bach, der an dieser Stelle gut zwei Meter breit ist. Wenn in nächster Zeit der Schnee schmilzt, wird aus dem ruhigen, in seinen Ausmaßen überschaubaren Gewässer ein kleiner Fluss werden, dessen Ansteigen den Anrainern durchaus einige Sorgen bereiten könnte. Meine Mutter bleibt auf dem hölzernen Steg stehen und schaut nach unten. Es ist aber nicht das zur einen
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