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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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Mutter diesen Weg gegangen, habe mich dabei gelangweilt und mir geschworen, es nicht noch einmal zu tun, und wie oft habe ich diesen Schwur gebrochen? Zugegeben, es handelt sich um nichts Dramatisches, nichts, das mir etwas völlig Widerstrebendes oder gar Scheußliches abverlangt. Von einer anderen Warte aus betrachtet, handelt es sich sogar um etwas überaus Positives: Ich nehme zwei Stunden beträchtlicher Langeweile auf mich, damit meine Mutter aus dem Haus kommt, sich etwas Bewegung verschafft.
    »Wie gnädig von dir. Soll ich dir für das bisschen, das du für mich tust, die Hand küssen?«
    »Wenn du willst.«
    Meine Mutter bleibt stehen, ihr Körper richtet sich unter dem Fuchspelz auf, sie sieht mir in die Augen. Die Langeweile ist wie weggeblasen, ich bin neugierig auf das, was nun kommt. Da geschieht es: Sie ergreift auf offener Straße ohne ein weiteres Wort meine Hand – weniger wie ein Kavalier als wie ein Lakai –, bückt sich, küsst sie und hinterlässt auf meinem Handrücken eine hingehauchte Spur ihres roten Lippenstifts. Dass in diesem Augenblick niemand an uns vorübergeht oder sich auch nur in unserer Nähe befindet, ist reiner Zufall. Ich weiß, dass sie dasselbe auch inmitten einer großen Menschenmenge gemacht hätte. Obwohl ich es gar nicht will, grinse ich über das ganze Gesicht und zolle ihr kopfschüttelnd für ihre Verrücktheit Respekt. Ohne zur Methode zu werden, ermöglicht es uns diese immer wieder durchschlagende Durchgeknalltheit meiner Mutter, einander von einer Sekunde auf die andere näherzukommen, die gemeinsame Geschichte, die zwischen uns liegt, nicht als Abgrund, sondern als Brücke zu empfinden.
    »Ich habe gestern Toni getroffen.«
    »Ausgerechnet.«
    »Wieso?«
    »Zum Maturatreffen gehst du nicht, aber mit dem triffst du dich.«
    »Mit wem?«
    »Mit dem Säufer.«
    »Das ist Jahre her.«
    »Für dich vielleicht.«
    »Menschen ändern sich.«
    »Das kommt einem nur so vor, weil sie mit der Zeit lernen, sich besser zu tarnen.«
    Männer sind für meine Mutter immer ein rotes Tuch gewesen. Einerseits fühlte sie sich von ihnen angezogen, andererseits wollte sie gegen sie anrennen, sich mit ihnen messen. Seit ich denken kann, war sie ihnen gegenüber hin- und hergerissen. Mischte man jedoch – wie bei einem chemischen Experiment – Männer mit reichlich Alkohol, löste sich dieser Konflikt in Luft auf, und es hieß: Auf sie mit Verachtung! Ihr Vater hatte ihre Mutter im Suff geschlagen, mein Vater hatte ihr die Nase gebrochen. Ein betrunkener Mann war wie ein Minenfeld: Ein Schritt in die falsche Richtung, und ein Mann konnte in die Luft gehen und sich eine Frau greifen, um sich kurzfristig an ihr schadlos zu halten für alle realen oder eingebildeten Kränkungen, die er im Leben zu erdulden hatte.
    Als ich Toni nach fast genau sieben Jahren wiedersah, stand er nicht an einer Bar, sondern vor einem Elektrogeschäft. Ich hatte ihn nur von der Seite gesehen und dennoch sofort erkannt. Obwohl es eine Kleinstadt war, in der alle Welt am Wochenende durch die Altstadt flanierte, war ich auf eine solche Begegnung nicht vorbereitet und wechselte die Straßenseite, um mir meinen nächsten Schritt zu überlegen. Toni war nicht allein. Er hatte seine Hand auf die Schulter eines Jungen gelegt und schaute sich mit ihm die Notebooks in der Auslage an. Beide hatten ihr Gesicht abgewandt, sodass mir im Grunde nicht mehr als die Haarfarbe blieb und die Erinnerung, wie Toni als Jugendlicher ausgesehen hatte, um festzustellen, ob es sich bei dem Jungen um Tonis Sohn handelte. Der Junge berührte mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand die Schaufensterscheibe. Ich konnte nicht genau erkennen, ob er dabei etwas sagte, aber als er seinen Kopf zur Seite drehte und zu Toni hochsah, hatte er den Gesichtsausdruck eines Kindes, das sich von einem Erwachsenen eine schlüssige Erklärung erhofft. Ich schätzte das Alter des Jungen auf sieben, acht Jahre. Falls er tatsächlich Tonis Sohn war, musste dieser ebenso mit dem Leben, das wir geführt hatten, gebrochen haben wie ich. Oder aber der Junge war die unbeabsichtigte Folge einer Nacht, die sich nur darin von unzähligen anderen unterschied, dass an ihrem Ausgang auf Toni keine weitere Bewusstlosigkeit wartete, sondern ein unfreiwilliges Erwachen. In meinem Kopf lief ein Film ab, unter welchen Umständen Toni Vater geworden sein könnte, ohne dass ich überhaupt wusste, ob der Junge sein Sohn war. Er hatte braunes Haar, aber zu behaupten, er hätte
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