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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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aller Liebe, wie er betonte – nicht in Frage kam. Entweder sie nahm ihn so, wie er war, oder gar nicht.
    Toni stand vor dem mannshohen, in roten Kunststoff und matt glänzendes Metall gefassten Ticketautomaten und warf Münzen in den Schlitz. Er hatte das Geld abgezählt, sodass – begleitet von einem surrenden Maschinengeräusch – zwei Fahrscheine in die Ausgabe fielen, vor der eine durchsichtige Plastikklappe angebracht war. Toni nahm die beiden Tickets, steckte sie in den orangefarbenen Entwerter, gab eines davon dem Jungen und sah mir danach mit einem spöttischen Lächeln ins Gesicht, als wollte er vorab einen Kommentar zu der Wirkung abgeben, die seine Worte auf mich haben mochten.
    Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, der Himmel war ein Streifen schmutziger Watte. Toni hatte sich verändert, das war offensichtlich, und war irgendwie doch er selbst geblieben. Er hatte ein festes Einkommen, eine feste Beziehung, er hatte die Flasche gegen die Hantel und das Board eingetauscht. Dennoch zog er, abgesehen davon, immer noch gerne allein herum, blieb für sich, ließ sich ungern auf einen Ort oder einen Menschen festnageln, zumindest nicht jeden Tag. Außerdem schien er dabei immer noch den Rahmen dafür abzustecken, was eine Frau zu akzeptieren hatte, wollte sie erreichen, dass er bei ihr blieb und auch wiederkam, wenn er ging. Auch wenn die paar Informationen einen solchen Schluss nicht wirklich zuließen, konnte man den Eindruck gewinnen, dass es ihm gelungen war, die unproduktiven und andere Menschen ausschließenden Facetten seiner Persönlichkeit produktiv zu machen. Er hatte seine Unbehaustheit und sein Einzelgängertum in die Form eines Berufs gegossen, die es ihm ermöglichte, damit erfolgreich zu sein und zu Anerkennung und Geld zu kommen. Seine Unnachgiebigkeit Frauen gegenüber – er hatte in gewissem Sinne nie Gefangene gemacht – war zu einer konsequenten Haltung abgemildert worden, die nicht wenige Frauen gerne mit Männlichkeit gleichsetzten. Ich hatte das Gefühl, dass ihm damit etwas gelungen war, was ich nicht geschafft hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinen Weg gefunden, meine Vorlieben und Eigenarten in klingende Münze oder gesellschaftliche Anerkennung zu verwandeln. Vielleicht war das ja der Grund, warum ich auf Tonis Einladung, den Sonntag mit ihm und seiner Freundin zu verbringen, zögerlich reagierte. Weil ich – obwohl ich einst unter unser Lotterleben entschlossen einen Schlussstrich gezogen hatte – gefühlt schlechter dastand als er.
    Bevor er in den Bus einstieg, gab er mir einen Klaps auf die Schulter, der sicher freundschaftlich gemeint war, mir aber so vorkam, als würde ein Trainer einen Spieler aufmuntern, der sich schwertat, ins Spiel zu finden. Wir hatten kaum über mich gesprochen, was offensichtlich weder ihn noch mich besonders störte.
    Die Türen schlossen sich mit dem Geräusch entweichenden Dampfes. Toni suchte mit dem Jungen nach zwei Sitzplätzen und blickte sich nicht nochmal um. Der Bus fuhr los. Noch bevor er hinter der nächsten Kurve verschwunden war, wusste ich, dass ich seiner Einladung nicht nachkommen würde.
     
    Wir gehen für kurze Zeit die Hauptstraße entlang, die zum historischen Stadtkern führt und in bescheidenem Ausmaß ein Abbild des Wohlstands ist, der in diesem Teil der Welt vorherrscht. Supermärkte, Shops für Bekleidungsartikel, Drogeriemärkte, Parfümerien, Elektrogeschäfte, Fastfood-Restaurants: Filialen derselben Geschäfte, die es in vergleichbaren Straßen, Fußgängerzonen und Einkaufszentren in ganz Europa gibt, zeugen vom Glanz der Verfügbarkeit und dem Elend der Gleichförmigkeit, die damit oft einhergeht. Meine Mutter begegnet dieser Situation ebenso widersprüchlich wie die meisten Menschen: Einerseits schimpft sie über das Verschwinden der kleinen Läden und mittelständischen Betriebe, lamentiert über eine Politik, die es so weit kommen ließ, andererseits geht sie, wenn sie sich ein Deodorant kaufen will, ein T-Shirt, Bananen oder eine CD, ausschließlich in die Geschäfte entlang der Hauptstraße. Zum Unterschied von früher geht sie jedoch zielgerichtet vor.
    »Ich kaufe inzwischen ein wie ein Mann, nicht mehr wie eine Frau. Mir fehlt was, ich weiß, wo ich es schnell und billig kriege, ich hole es.«
    Die Lust am Erwerb ist ihr abhandengekommen, eine Lust, die sich eher auf den Akt des Erwerbens bezieht als auf das Erworbene, das sich dann im Kleiderschrank, im Bücherregal, im Kühlschrank
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