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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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Hälfte durch einen in Ufernähe stehenden Schuppen umschattete, zur anderen Hälfte durch die Sonnenstrahlen an der Oberfläche glitzernde Wasser, das ihren Blick auf sich zieht.
    »Jetzt schau dir das an.«
    Zwei Einkaufswagen liegen umgestürzt am abschüssigen Ufer, einer befindet sich zur Hälfte im Wasser. Man muss das farbige Emblem am Griff der Wagen nicht erkennen, um zu wissen, dass sie aus dem nahe gelegenen Supermarkt stammen. Seit es den Markt gibt, bringen immer wieder Kunden ihren Großeinkauf mit dem Einkaufswagen nachhause. Anstatt ihn zurückzubringen, stellen sie ihn irgendwo auf dem Gelände der Siedlung ab. Dies ist keine verwahrloste Gegend, hier wird darauf geachtet, dass niemand die Mittags- und Nachtruhe stört, dass der Müll getrennt wird und der Kot eines Hundes umgehend vom Besitzer entfernt wird. Den Einkaufswagen nicht zurückzubringen gilt jedoch als Kavaliersdelikt, noch dazu, wo man Grund zu der Annahme hat, dass Kinder sich des Wagens bemächtigen und ihn entweder zurückbringen, um das Pfand zu kassieren, oder ihn die Uferböschung hinabwerfen und darauf hoffen, dass er sich möglichst spektakulär überschlägt und zur Gänze im Wasser landet, bei hohem Wasserstand sogar darin versinkt. Im Grunde ein Akt von Vandalismus, der die meisten Anwohner jedoch nicht berührt, da der Bach nicht Teil ihrer Siedlung ist und somit nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fällt.
    »Schau dir diese Schweine an«, sagt meine Mutter – die verkappte Landschaftsgärtnerin. »Das wäre ja nun wirklich keine Sache, den Wagen zurückzubringen. Aber den Leuten geht die eigene Bequemlichkeit über alles. Das Geld scheinen sie auch nicht zu brauchen. Die Zeiten werden schlechter, aber manchen geht es eben immer noch zu gut. Das sind dann aber ausgerechnet die, die dann am meisten jammern.«
    Dass dem Bau der Siedlung, die wir nun auf unserem Weg durchqueren, ein eigens dafür angefertigter architektonischer Entwurf vorausging, scheint beim Anblick, den die einstöckigen Doppelhaushälften und vierstöckigen, quaderförmigen Mietshäuser bieten, eher eine Konvention, die der Bildung des Betrachters geschuldet ist. Vielleicht liegt ja all diesen Bauten aus den siebziger Jahren ein einziger Entwurf zugrunde, der dann in einer Art Instantverfahren mit leichten, der jeweiligen Umgebung angepassten Abweichungen zum Einsatz kommt, aber im Grunde immer derselbe bleibt, nicht anders als ein Hamburger oder ein Döner.
    »Eigentlich sind das ja unsere Ressourcen, mit denen die Leute da so schändlich umgehen. Der Bach, das Ufer, das gehört uns ja irgendwie allen, nicht? Stell dir vor, wenn wir mit dem Eigentum der Leute genauso verfahren würden. Ich sage dir, die würden sich das schnell abgewöhnen.« In ihren Mundwinkeln nistet ein hinterfotziges Lächeln, ein Anflug von Rache und Zerstörungswut, und ich stelle mir vor, wie sie mit einem Schraubenzieher bewaffnet Autos zerkratzt.
    »Willst du kurz vorbeischauen?«, fragt mich meine Mutter, als wir zu der Abzweigung kommen, die zum Gymnasium führt.
    »Wozu?«
    »Um der alten Zeiten willen vielleicht. Was weiß ich?«
    »Was für alte Zeiten?«
    »Stimmt.« Sie wirft mir von der Seite einen grauen Blick zu. »Du warst ja noch nicht mal beim zehnjährigen Maturajubiläum dabei.«
    »Ich – und ungefähr zehn andere, was bei einer Anzahl von 26 beinah die Hälfte ist. Wir waren eben keine Klassengemeinschaft.«
    »Wieso eigentlich nicht?«
    »Ich kann mich nicht erinnern. Es interessiert mich auch nicht.«
    »Du erinnerst dich nur, woran du dich erinnern willst.«
    »Bei wem ich mir das wohl abgeschaut habe?«
    Nicht nur der Blick meiner Mutter ist grau, auch ihr Fuchspelzmantel ist es, das kecke Rotbraun des flinken Fuchses ist ebenso verschwunden wie das natürliche Blond ihrer Haare. Vielleicht hat der Pelz in Wahrheit nichts von seiner Farbigkeit verloren, und es liegt einzig und allein an mir, dass ich sie nicht mehr sehen kann. Mit zunehmender Dauer unseres Spaziergangs hat mich nämlich ein graues Gefühl befallen, von dem ich nicht sagen kann, ob ich die Ursache dafür bin oder ob sie in der Umgebung zu suchen ist, in der ich mich befinde. Die Straßen, die wir entlanggehen, die Häuser, an denen wir vorüberkommen, sind wie Gewohnheiten, die man nicht liebgewonnen hat, sondern die man an sich selbst nicht leiden kann – allein, es fehlt die Kraft oder eine lohnenswerte Perspektive, um sich aufzuraffen und sie abzulegen. Wie oft schon bin ich mit meiner
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