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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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Nordpolversuch steht im Zeichen eines höheren Sinns als des rein sportlichen: Der Schwimmer will auf die Auswirkungen des Klimawandels und die Tatsache aufmerksam machen, dass die Arktis in fünfzig Jahren im Sommer eisfrei sein wird und in ein Rohstofflager verwandelt werden könnte. Man ist versucht, diese Geste zu belächeln, die im Kontext der Veränderungen, die mit Klimawandel und Globalisierung einhergehen, so verloren erscheint wie der halbnackte Schwimmer inmitten der Eisschollen, die ihn mit der spielerischen Kraft von Kleinkindern nebenher zerquetschen könnten. Gleichzeitig rückt sie die Maßverhältnisse zurecht und gibt dem Menschen etwas von seiner natürlichen Größe wieder. Der Akt des menschlichen Triumphs über die widrigen natürlichen Umstände verliert die Aura des Heldenepos und kehrt zu seinen Wurzeln zurück: dem Überlebenskampf, der Existenzsicherung.
     
    Es ist tatsächlich weniger die Müdigkeit, die mich beunruhigt, als das Unwissen, was ihre Ursache sein könnte. Ich bin beim Arzt gewesen, habe mir das Blut abnehmen, den Blutdruck messen, einen Hormonspiegel erstellen lassen und mich auf einem Laufband einem Belastungstest unterzogen. Die Ergebnisse weisen keine besorgniserregenden Abweichungen vom statistischen Durchschnitt auf. Im Gegenteil, den ermittelten Werten zufolge bin ich in einem sehr guten, fitten Zustand – was im Grunde nicht verwunderlich ist, da ich nicht rauche, im Vergleich zu früher wenig Alkohol trinke, mir Fastfood nicht schmeckt und ich mich zumeist mit dem Fahrrad oder zu Fuß fortbewege. Auch leide ich nicht – wie ein Bekannter von mir – an einer Krankheit wie Epilepsie. Die Tabletten, die er zweimal am Tag zu sich nehmen muss, führen nicht nur zu einer heftigen Belastung seiner Leber und Nieren, sondern auch zu periodischen Müdigkeitsphasen, die ihn jeden Monat vier bis fünf Tage lang plagen, wobei es im Winter schlimmer ist als im Sommer. Ich beneide ihn wahrlich nicht um seine Krankheit. Dennoch genießt er mir gegenüber den Vorteil, dass es in der Relation von Wirkung und Ursache für ihn keine unbekannte Größe gibt, während ich dahingehend im Trüben fische.
    Wenn es keine körperlichen Ursachen gibt, so heißt es, muss es psychische geben. Diese Behauptung, die jedermann leicht über die Lippen geht, führt in meinem Fall zu noch größerer Verwirrung. Ein niedriger Blutdruck, eine hormonelle Störung, eine Stoffwechselerkrankung, eine Dysfunktion der Schilddrüse, ja ein Hirntumor – alles wäre mir als Erklärung plausibler erschienen als ein traumatisches Erlebnis in meiner Kindheit, das mich über die Kluft der Jahre hinweg in einer Buchhandlung heimholt und mich das Buch, in dem ich gerade noch wach und interessiert geblättert habe, ermüdet aus der Hand legen und mich in mein Bett zurückwünschen lässt. Was würde mir ein Psychologe sagen? Dass es sich um eine Art Mittdreißiger-Müdigkeit handelt, die hauptsächlich Männer befällt, die sich nach dem Studium in ihrem Leben nicht zurechtfinden und sich unbewusst in die sorgenfreie Traumatmosphäre der Plazenta zurücksehnen? Das erscheint mir ebenso überzogen wie die Möglichkeit, an einer Depression zu leiden. Dazu ist die Symptomatik, scheint mir, bei mir viel zu schwach ausgeprägt. Die Müdigkeit stellt eine Behinderung meines Alltags dar, nicht diesen Alltag selbst. Ich schlafe gut, habe einen – wenn auch unbefriedigenden – Job, habe ab und zu eine Beziehung (oder wenigstens eine Affäre) und zweifle zwar immer an dem Weg, den ich eingeschlagen habe, ohne jedoch darüber zu verzweifeln.
    Bis zu einer endgültigen Diagnose bleibt mir vorerst nichts anderes, als selbst an den Symptomen herumzudoktern. Wechselduschen zu nehmen, wobei ich Kneipps Vorgaben befolge und mit dem kalten Wasser bei den Füßen beginne und mich langsam zum Herzen hinbewege. Ein Bekannter hat mir Tropfen empfohlen, die ihm ein Heilpraktiker für seine Kreislaufbeschwerden verschrieben hat. Meine Mutter hat mir ein Rosmarin-Tonikum geschickt, mit dem ich mich einreiben soll. Es soll ebenfalls den Kreislauf stärken und die Durchblutung fördern. Ob ich mich mit diesem doch recht intensiven Geruch noch unter die Leute wagen kann, ist eine andere Frage.
    Vielleicht ist alles viel einfacher. »Du bist ein melancholischer Einzelgänger«, hat meine Exfreundin Sonja vereinfachend über mich gesagt, was im Zusammenhang mit meinen Symptomen nichts anderes bedeutet, als dass die Ursache dafür nicht in oder
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